Menschen starben bei dem Versuch, die Grenze in die EU zu überwinden. Der EGMR hielt Zurückweisungen in ähnlichen Fällen zuletzt für rechtmäßig, während die Menschenrechtskommissarin des Europarats die Verletzung von Menschenrechten rügt.
Mindestens 18 Menschen starben am vergangenen Wochenende bei dem Versuch, aus Marokko in die spanische Exklave Melilla zu kommen. Weitere 63 Migranten und etwa 140 marokkanische Polizisten wurden verletzt. Bis zu 2.000 Menschen wollten am Freitag die drei parallel verlaufenden, sechs Meter hohen Grenzzäune zwischen Marokko und der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla überwinden.
Menschenrechtler erhoben schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte. Die marokkanischen Behörden hätten "ungerechtfertigte Gewalt" eingesetzt und Migranten "misshandelt", sagte der Leiter der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) in der Stadt Nador, Amin Abidar, am Samstag der Deutschen Presse-Agentur. Menschen seien stundenlang ohne medizinische Hilfe eingeschlossen auf der Erde liegengelassen worden. Nach Angaben der Organisation kamen dadurch mehrere Migranten ums Leben.
Die Stadt Melilla gehört zu Spanien, liegt aber in Nordafrika an der marokkanischen Küste. Regelmäßig versuchen afrikanische Flüchtlinge, dort auf spanischen Boden zu gelangen, um einen Asylantrag nach EU-Recht stellen zu können.
Praktisch ist es den Menschen an den Grenzzäunen allerdings nicht möglich, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Sie haben schlichtweg keinen Zugang zu entsprechenden behördlichen Stellen. So kommt es in unregelmäßigen Abständen zum Sturm auf die Grenzzäune durch die Flüchtlinge – und zu massiven Verteidigungshandlungen der Grenzschützer. Und zu Toten und Verletzten.
EGMR zu Melilla: Keine Illegalen Push-backs
Seit Jahren gelangen derartige Fälle mit Unterstützung beispielsweise durch ProAsyl oder das European Center für Constitutional and Human Rights (ECCHR) vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Für Menschenrechtler liegt in dem Vorgehen der Grenzschützer ein Verstoß gegen das vierte Zusatzprotokoll zu Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Verbot der Kollektivausweisungen, so genannten Push-backs. Das sind Zurückschiebungen von Menschen in Drittländer, ohne dass sie einen Asylantrag stellen oder überprüfen lassen konnten.
Dass Push-backs verboten sind, steht außer Frage. Juristen streiten sich jedoch erheblich über die Frage, wo die Grenzen der rechtswidrigen Push-backs verlaufen.
Der EGMR hat bereits einige Fälle zu der Frage entscheiden. Er ist das zuständige Gericht, wenn es um die Einhaltung der Verpflichtungen aus der EMRK geht. Konkret zu Melilla urteilte die Große Kammer des EGMR, dass Spanien zwei Afrikaner, die die Zäune der Enklave überwanden, sofort nach Marokko zurückschicken durfte (Urt. v. 13.02.2020, Az. 8675/15 und 8697/15).
Der EGMR argumentierte, die Männer seien bewusst nicht über einen legalen Weg eingereist. Dass sie ohne individuelle Ausweisungsentscheidung zurück nach Marokko gebracht wurden, sei daher eine Folge ihres eigenen unrechtmäßigen Verhaltens und wegen ihres eigenen schuldhaften Verhaltens nicht als rechtswidriger Push-back zu bewerten.
"Der EGMR argumentierte dazu, dass die Menschen zum Überqueren der Landesgrenze bewusst ihre große Anzahl an Personen ausgenutzt und Gewalt angewendet und so eine störende, schwer kontrollierbare und die öffentliche Sicherheit gefährdende Situation geschaffen hätten, obwohl es effektiven Rechtschutz an der Grenze gegeben hätte", erklärt Carsten Gericke. Er ist Rechtsanwalt und Unterstützer des ECCHR im Programmbereich Flucht und Migration, und war seinerzeit der Anwalt der Kläger.
Diese Argumentation war allerdings die der großen Kammer des EGMR. Einige Jahre zuvor hatte hingegen eine andere Kammer des EGMR den Klägern Recht gegeben (Urt. v. 03.10.2017, Beschwerdenr. 8675/15).
EGMR verschärft seine Rechtsprechung
Wie die Große Kammer argumentierte der EGMR bei der Verbringung von rund 1.500 Flüchtlingen nach Griechenland durch Nordmazedonien (Urt. v. 05.04.2022, Az. 55798/16 u.a.). Auch dies seien keine rechtswidrigen Zurückweisungen gewesen. Denn die Flüchtlinge selbst seien illegal eingereist und hätten keine Asylanträge gestellt.
In den Fällen hatten sich die Menschen zu Fuß aus dem griechischen Flüchtlingslager Idomeni nach Nordmazedonien aufgemacht. Die Aktion war als "Walk of Hope" bekannt geworden. Einige Kilometer hinter der Grenze waren die Leute allerdings abgefangen und zurück nach Griechenland verbracht worden. Acht Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen hatten gegen diese Maßnahme unterstützt von Pro Asyl und dem ECCHR geklagt. Ebenfalls erfolglos.
Nach Einschätzung von Asylrechtlern verschärfte der EMGR seine Rechtsprechung bei dieser Entscheidung noch einmal. "Die Kammer hat in diesem Fall keineswegs nur die Vorgaben der Großen Kammer aus der Entscheidung gegen Spanien zur Anwendung gebracht, sondern die Voraussetzungen für das eigene schuldhafte Verhalten ohne nähere Begründung weiter gesenkt und den Anwendungsbereich dieses Ausschlusstatbestands erheblich ausgeweitet", sagt Gericke.
Unstreitig – so stehe es auch im Urteil – habe es in Nordmazedonien keine Gewalt seitens der Beschwerdeführer gegeben und auch keine disruptive Situation vorgelegen, erläutert Gericke. "Nach Anwendung der bisherigen Voraussetzungen hätte daher kein schuldhaftes Verhalten der Flüchtlinge vorgelegen und der EGMR hätte somit eine Verletzung von Art. 4. Zusatzprotokoll 4 EMRK feststellen müssen", meint der Anwalt. Zudem habe es hier eindeutig keinen genuinen und effektiven Zugang zu einem Grenzverfahren gegeben, denn: "Die griechisch-mazedonischen Grenzübergänge waren für Geflüchtete seit dem 8. März 2016 vollständig geschlossen".
Menschenrechtskommissarin vs. EGMR
Auf der Linie der Flüchtlingsschutzorganisationen – und damit offenbar gegen den EGMR – positioniert sich die Menschenrechtskommissarin des Europarats. Das Amt wird von der Parlamentarischen Versammlung für sechs Jahre per Wahl besetzt, ist eine unabhängige Instanz und setzt sich in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats für den Schutz der Menschenrechte und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für sie ein. Die Kommissarin wirkt als Beraterin in Fragen zu den Menschenrechten, weist auf mögliche Mängel in Gesetzgebung und Praxis hin und unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Seit April 2018 bekleidet Dunja Mijatović aus Bosnien-Herzegowina den Posten.
Mijatović hat im April 2022, zwei Tage nach der EGMR-Entscheidung zu Nordmazedonien, einen Bericht über die Lage der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen vorgelegt. In diesem bemängelt sie gravierende und systematische Menschenrechtsverletzungen und fordert, dass diese aufgeklärt, sanktioniert und beendet werden.
Sie benennt illegale Push-backs von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien, aber auch von Slowenien, Österreich, Italien, Rumänien und Ungarn. Und bezeichnet es als besorgniserregend, dass in einigen Mitgliedstaaten die Anwendung von Gewalt ein akutes und systematisches Merkmal von Push-backs sei.
Kerngedanke des Verbots: Individualisierung
"Der Gedanke im Verbot der Kollektivausweisung ist ja, dass jede:r Einzelne einen Anspruch darauf hat, vor einer Zurückschiebung oder Ausweisung gehört zu werden", erklärt Gericke. Passiere das nicht, indiziere dies, dass nicht individuelle, sondern kollektive Aspekte tragend waren.
Eine individuelles Verfahren stelle auch einen Schutz vor unzulässiger Gewaltanwendung und anderen Menschenrechtsverletzungen dar, da Vorfälle und verantwortliche Beamt:innen identifizierbar werden. "Dann könnten Menschenrechtsverletzungen zumindest verfolgt werden, man weiß, wer überhaupt Kontakt zu den Betroffenen hatte", so der Anwalt aus Hamburg.
"Bis 2018 hatte sich der EGRM noch klar gegen Push-backs positioniert und – beispielsweise in einem Verfahren gegen Italien und Griechenland – das Verbot von Kollektivausweisungen hervorgehoben. Seitdem ist eine schrittweise Aushöhlung festzustellen", sagt Gericke. Von der Maßgabe, Schutzrechte "praktisch und effektiv, und nicht theoretisch und illusorisch" auszulegen, habe sich der Gerichtshof weitgehend verabschiedet. Eine Rolle spiele dabei sicherlich die festgefahrene Diskussion um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) der EU. "Allerdings wäre von einem Menschenrechtsgerichtshof zu erwarten, gerade in einer solcher Situation Menschenrechte zu stärken und nicht zu schleifen", so der Anwalt aus Hamburg.
"Die Rechtsprechung des EGMR war mal sehr eindeutig", kritisiert auch Dr. Constantin Hruschka, Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. "Inzwischen hat er sich scheinbar partiell dem politischen Druck gebeugt und setzt nun mehr auf die Fiktion des Zugangs zu einer Asylantragsstelle als die faktische Möglichkeit für die Flüchtlinge, eine solche Stelle zu erreichen." Das sehe man insbesondere bei den Verfahren zu den Landaußengrenzen des Schengenraumes. Der EGMR habe es als ausreichend gelten lassen, dass die Länder Asylantragstellen an entlegenen Stellen an ihren Grenzen vorhalten. Wie und ob die Schutzsuchenden dorthin kommen können, spiele eine untergeordnete Rolle. Hruschka meint: "Der EGMR ist inzwischen sehr phantasievoll, wenn es um theoretisch verfügbare legale Zugangswege geht."
Für die Menschenrechtskommissarin jedenfalls steht fest, dass die Mitgliedsstaaten sich an die Menschenrechtskonvention und an die Zusatzprotokolle halten müssen – zumindest, wenn sie diese unterschrieben haben. "Die Menschenrechte sollen uns alle gleichermaßen schützen, unabhängig von nationaler oder ethnischer Herkunft, Hautfarbe oder Glauben, schreibt Mijatović. Und meint damit womöglich auch junge Männer aus Afrika an der Grenze zu Melilla.
Mit Material der dpa
Tote an der Grenze zur spanischen Enklave Melilla: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48875 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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