Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag in Solingen: "Boden für Anschläge bereitet"

von Tanja Podolski

17.01.2025

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss hat die Beweisaufnahme zum Terroranschlag in Solingen begonnen. Daniel Thym und Martin Fleuß sehen als Sachverständige strukturelle Defizite bei Abschiebungen. 

Am Freitag begann die Beweisaufnahme zum Terroranschlag in Solingen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) im Landtag NRW. Die Meinung der juristischen Sachverständigen war im Ergebnis einhellig: Daniel Thym von der Universität Konstanz und Martin Fleuß, Richter am Bundesverwaltungsgericht und Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf, zeigten strukturelle Defizite im deutschen und europäischen Asylsystem auf. Neben den beiden Juristen war der emeritierte Professor für Politikwissenschaften Prof. Dietrich Thränhardt von der Universität Münster als Sachverständiger für Migration geladen. 

Hintergrund der Untersuchung ist der Anschlag in Solingen im August 2024: Bei einem Stadtfest stach ein Mann mit einem Messer wahllos auf Besucher ein. Drei Menschen starben, acht weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Tatverdächtig ist ein Syrer, der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren an sich gezogen, weil dem Tatverdächtigen auch Mitgliedschaft in der Terroristischen Vereinigung Islamischer Staat vorgeworfen wird – dafür ist Karlsruhe zuständig. Der Mann hatte nach Bulgarien überstellt werden sollen, war aber bei einem Überstellungsversuch nicht in seiner Unterkunft angetroffen worden.

Der PUA soll die Verantwortung und das Vorgehen der NRW-Landesregierung, der Sicherheitsbehörden und der übrigen betroffenen Behörden klären. Die Experten sollen den Mitgliedern des PUA einen Überblick über die zum Zeitpunkt des Anschlags geltende Rechtslage im Asyl- und Ausländerrecht sowie des Sicherheitsrechts verschaffen.

Thym war schon in seinem Eingangsstatement deutlich: "Dublin kann nicht funktionieren, das System ist von Designfehlern durchzogen. Überall Sand im Getriebe, auch in NRW. Wir müssen die hausgemachten Probleme angehen." Auch Fleuß sagte: "Strukturelle Defizite haben den Boden für die Anschläge bereitet und könnten jederzeit für weitere Anschläge ausgenutzt werden"

"Rezept für Dysfunktionalität"

Thym nannte fünf innerstaatliche Hindernisse, die aus seiner Sicht grundlegende Probleme im Dublin-System bereiten: das Kirchenasyl, die Abschiebehaft, die dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge, die fehlende Zuführung der Personen zu ihren Abschiebungen und die Behördenstruktur. 

Das Dublin-System regelt die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für Geflüchtete. Grundsätzlich ist danach das Land zuständig, in dem der Mensch erstmals europäischen Boden betreten hat. Gleichwohl ist dem System immanent, dass die Menschen in einem weiteren Mitgliedstaat erneut Asyl beantragen können. Dann stellt das Zweitland zwar einen Überstellungsantrag an das erste – doch einige Länder reagieren darauf gar nicht mehr. Thym nannte die Zahlen: In 2023 und 2024 habe die Erfolgsquote für Italien nahe Null, für Kroatien bei drei Prozent und für Bulgarien bei sieben Prozent gelegen*. 

Die Länder allerdings, erklärte Thym, könnten Vorgaben zu den Abläufen bei Überstellungen machen – und machten davon auch Gebrauch, auch Deutschland. So würden nur einzelne Wochentage, nur bestimme Flüge und kurze Zeiträume etwa in den frühen Morgenstunden festgelegt, zu denen die Ausländer eingeflogen werden dürfen. Einen Bustransfer aber – und Thym betonte, wie preisgünstig und schnell etwa ein Bus etwa von Konstanz nach Mailand ist – ­sehen die Länder nicht vor. 

Bei allen Vorteilen für die Integrationsmaßnahmen lägen in der dezentralen Unterbringung der Geflüchteten wesentliche Probleme, denn die Menschen würden häufig nicht angetroffen, wenn sie abgeschoben werden sollten. "Über 50 Prozent der Überstellungen oder Abschiebungen sind gescheitert", sagt Thym, "da ist Solingen kein Einzelfall". Das Vorgehen erfordere Absprachen zwischen den verschiedenen Behörden und es seien stets Einzelfallprüfungen erforderlich. "Das ist bei der Belastung der Behörden und den knappen Ressourcen etwa bei der Polizei kaum möglich und daher ein Rezept für innerstaatliche Dysfunktionalität". 

Auch der Umgang der Kirchen mit den rund 2.000 Kirchenasylfällen, die ausschließlich Dublin-Überstellungen beträfen, sei ihm "schleierhaft". Abschiebehaftplätze gebe es viel zu wenig und es wäre "aus grundrechtlichen Überlegungen" gut, wenn man die nicht bräuchte, weil die Überstellungen funktionieren. Die Überstellungen blieben daher "ein Kampf gegen Windmühlen". Die Komplexität des Problems bringt er auf den Punkt: Am Europäischen Gerichtshof (EuGH) gebe es inzwischen ein Verfahren zu der Frage, welches Land zuständig sei, wenn ein Mensch in drei verschieden Mitgliedstaaten Asyl beantragt hat. 

"Systemische Mängel im Asylrecht"

Fleuß bekräftigt, es gebe "systemische Mängel im deutschen und europäischen Asylrecht". Seit Jahren gebe es "tiefgreifende strukturelle Verwerfungen". Er betont die Grundidee: "Das Asylrecht ist personenbezogenes Gefahrenabwehrrecht, kein Leistungs- oder Zuwanderungsrecht". Der Begriff des Spurwechsels sei "zum Modewort, Abschiebung zum Unwort geworden".

Mit der Reform des Asylrechts hin zum "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) würden die Probleme nicht weniger. Das Gesetz tritt Mitte 2026 in Kraft. "Dann gelten elf EU-Verordnungen unmittelbar und eine Richtlinie, die in deutsches Recht umgesetzt werden muss", so der Bundesrichter. "Hier wird das Recht nicht mehr in Deutschland, sondern in der EU gesprochen. Wenn wir die Regeln auslegen wollen, müssen wir das als Bundesverwaltungsgericht dem EuGH vorlegen und unsere Verfahren aussetzen." Das Asylrecht sei ein "unionsrechtlich unterminiertes Rechtsgebiet". Man rede also über Vorgaben, "die man nicht aushebeln kann". 

Eine Rückkehr zu nationalen Asylverfahren sei allerdings keine Lösung, betone Thym: "Glauben Sie das nicht". Er verweist auf die Situation in den 80er und 90er Jahren: "Da wurden zwei Drittel aller Asylanträge in Deutschland gestellt." Dank des europäischen Asylsystems sei die Zahl der Asylanträge über Jahre auf unter 50.000 gesunken. Dazu werde es wohl nicht mehr kommen. "Mit heutigem Blick müssen wir die Behörden und die Gerichte so aufstellen, dass sie das leisten können." 

Am Montag wird der PUA Solingen mit weiteren Anhörungen von Experten fortfahren. Die Opposition hatte beantragt, Josefine Paul, Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration, zu vernehmen. Dies haben die Fraktionen von CDU und Grüne mit ihrer Mehrheit abgelehnt. Die CDU teilte mit, der Ausschuss werde sich wie geplant mit der Anhörung von Expertinnen und Experten in den relevanten Themenbereichen zunächst eine Wissensgrundlage schaffen und im Anschluss daran wie vereinbart mit der Ladung von Zeuginnen und Zeugen beginnen.

*Red.: hier standen zunächst Zahlen, es ging aber um Prozent. Richtigstellung am 20.1.24, 9.17h 

Zitiervorschlag

Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag in Solingen: . In: Legal Tribune Online, 17.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56367 (abgerufen am: 11.02.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen