Dürfen die Länder den Maßregelvollzug psychisch kranker Straftäter in die Hand von privaten Gesellschaften geben? Mit dieser Frage beschäftigt sich seit Dienstag das BVerfG. Der Beschwerdeführer war zwangsweise in eine Beruhigungszelle gebracht worden – ohne Anweisung des Klinikleiters oder Richters. Das Gericht scheint nun sehr genau hinzuschauen.
Die Richter des BVerfG zeigten in der mündlichen Verhandlung deutlich, dass sie die Privatisierung des Maßregelvollzugs äußerst kritisch beurteilen. Verfassungsbeschwerde hatte ein Mann aus Hessen eingelegt (Az. 2 BvR 133/10). Er war nach einem aggressiven Ausbruch zwangsweise in einer Beruhigungszelle untergebracht worden.
Das Gericht will den verfassungsrechtliche Rahmen der Privatisierung ausloten: "Es geht um die Ausübung unmittelbaren Zwangs gegenüber kranken Menschen, die aufgrund staatlicher Anordnung verwahrt werden und sich als Insassen einer geschlossenen Einrichtung in einer Situation außerordentlicher hoher Abhängigkeit befinden", gab der Vorsitzende des Zweiten Senats und Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle zu Beginn der Verhandlung zu bedenken. Mit einem Urteil wird in einigen Monaten gerechnet.
In den Maßregelvollzug kommen diejenigen Straftäter, die wegen einer psychischen Erkrankung oder Drogenabhängigkeit als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig anzusehen sind. Mit dem Vollzug in der forensischen Psychiatrie soll die Bevölkerung geschützt und die Täter therapiert werden. Etwa 10.000 Personen sind bundesweit nach Angaben hessische Staatsminister Michael Boddenberg (CDU) untergebracht. 1991 waren es nur halb so viel. Die meisten Bundesländer haben dabei den Maßregelvollzug aus finanziellen Gründen privatisiert, was nicht ohne Probleme ist. Denn die mit dem Vollzug zwangsläufig verbundenen Grundrechtseingriffe werden dann nicht direkt von Beamten vorgenommen, sondern von Angestellten einer privatrechtlich organisierten Gesellschaft.
So war es auch bei dem Beschwerdeführer. Er sitzt in einer Vitos-Klinik in Gießen ein. Nachdem Hessen den Maßregelvollzug 2007 privatisiert hatte, wird die Klinik von einer Gesellschaft privaten Rechts, einer gemeinnützigen GmbH, betrieben, die zu 100 Prozent unmittelbar und mittelbar in der Hand des Landeswohlfahrtsverbandes liegt. Ohne vorherige Information der Klinikleitung war er in die Zelle verbracht worden. Seine Klage vor den Fachgerichten blieb erfolglos. Der Eingriff sei rechtswidrig gewesen, argumentierte er. Nach Angaben des Klinikleiters Rüdiger Müller-Isberner dürfen nur er selbst und sieben Ärzte solche Maßnahmen anordnen.
Anwalt prangert schweren Eingriff in Grundrechte an
Diese Zustände stellen nach Ansicht des Marburger Anwalts des Beschwerdeführers Bernhard Schroer einen schweren Eingriff vor allem in die Freiheitsgrundrechte der Betroffenen dar: "In einem Ermittlungsverfahren ist es selbstverständlich, dass Anordnungen von Richtern und Festnahmen von Polizisten vorgenommen werden", sagte Schroer. Nur im Vollzug, der einen massiven Eingriff in die Grundrechte darstelle, sollten Beamte auf einmal nicht mehr nötig sein. "In einem so sensiblen Bereich kann und darf der Staat aber seine hoheitlichen Aufgaben nicht abgeben", sagt der Anwalt, der bereits ein Grundsatzurteil zur Sicherungsverwahrung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erstritten hat.
Staatsminister Boddenberg verwies darauf, dass auch vor 2007 in den forensischen Psychiatrien keine Beamten gearbeitet hätten. Grund für die Privatisierung seien außerdem nicht finanzielle Gründe gewesen, sondern damit sollte unter anderem der Verbund von psychiatrischen und forensischen Kliniken erhalten bleiben.
Richter fragen sehr kritisch nach
Die Richter informierten sich in der knapp dreistündigen Verhandlung ausführlich über die Zustände in den Kliniken, die Bezahlung der Angestellten und die Art des Vorgehens bei Grundrechtseingriffen. Dabei sparten sie nicht mit kritischen Fragen. Ob es im täglichen Betrieb ausreiche, wenn nur acht Leute den Angestellten Weisungen erteilen dürfen, fragte etwa Berichterstatterin Gertrude Lübbe-Wolff. Schließlich sei der Aufenthalt in der Klinik für die Insassen mit ständigen Grundrechtseingriffen verbunden. Das reiche von der Frage, wo der Joghurt gegessen werden dürfe bis zur Einsicht in die Post. Gerichtspräsident Voßkuhle bemerkte in diesem Zusammenhang an, dass das Lesen der Post während der Untersuchungshaft nur ein Richter anordnen könne und dass es dafür hohe rechtliche Hürden gebe. "Es ist schon interessant, dass es im Maßregelvollzug anders ist."
Zu denken gaben den Richtern aber auch die Argumente des Klinikeiters, Müller-Isberner. Seit der Privatisierung könne er Mitarbeitern kündigen, wenn es nötig sei. Die Situation der Insassen habe sich durch die rechtlichen Veränderungen nicht verschlechtert. Im Gegenteil komme ihnen wirtschaftliches und damit effizienteres Handeln zu Gute. Bei dem Beschwerdeführer hätten die Pfleger unter Gefahr im Verzug gehandelt, sagte er dann am Rande der Verhandlung. Es habe keine Zeit mehr für ein Telefonat mit dem zuständigen Arzt bestanden. "Das hätte jeder Mensch auf der Straße in dieser Situation genau so gemacht."
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Privatisierung des Maßregelvollzugs: . In: Legal Tribune Online, 25.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4652 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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