Mitte Oktober stehen in Polen Parlamentswahlen an: Sie werden auch über das Schicksal des Rechtsstaates entscheiden. Derweil stehen noch wegweisende Entscheidungen des EuGH und EGMR an.
Die seit 2015 in Polen regierende Partei PiS steht ihrem Namen nach für "Recht und Gerechtigkeit" (Prawo i Sprawiedliwość). Tatsächlich ist die Partei um ihren Chef Jarosław Kaczyński verantwortlich für Justizreformen, die mit europäischen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit kollidieren und deshalb immer wieder kritisiert werden.
Im Vorfeld der Parlamentswahl am 13. Oktober 2019 entscheiden sich wegweisende Gerichtsverfahren zu diesen Justizreformen. Vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) sind Verfahren wegen der umstrittenen Novellierung des Gesetzes über den Nationalen Richterrat (KRS) und wegen des verschärften Disziplinarrechts für Richter anhängig. Weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit überprüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), ob das polnische Verfassungsgericht (TK) in seiner aktuellen Besetzung rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt.
Eine politisierte Disziplinarkammer für polnische Richter?
Vor dem EuGH (C‑585/18, C‑624/18, C‑625/18) geht es einmal um die Rechtmäßigkeit der 2018 geschaffenen Disziplinarkammer des Obersten Gerichts (SN). Im Gesetz über das SN heißt es zum Aufgabenfeld der Kammer: Disziplinarsachen gegen Richter am SN, gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare. Für die EuGH-Richter von zentraler Bedeutung wird dabei nicht die Disziplinarkammer an sich sein, sondern vor allem die Frage um die KRS, die u.a. die Disziplinarrichter nominiert. Nach Art. 186 Abs. 1 der polnischen Verfassung soll die KRS nämlich über die richterliche Unabhängigkeit wachen.
Die faktische Funktionsweise des Gremiums und der parlamentarische Wahlmodus seiner Mitglieder – so EuGH-Generalanwalt Tanchev in seinen Schlussanträgen vom 27. Juni 2019 – würden allerdings nicht den Anforderungen an europäisch verstandene Rechtsstaatlichkeit genügen. Der hier einschlägige Art. 47 der Grundrechtecharta gewährt jeder Person das Recht darauf, dass "ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht (…) verhandelt wird."
Die Argumentation des Generalanwalts ist gut nachvollziehbar: Wird ein Gericht – hier die Disziplinarkammer des SN – mit Richtern besetzt, die durch ein besonderes Justizgremium bestimmt werden, so muss auch dieses Gremium als Teil der Judikative dem Einfluss der Legislative und der Exekutive entzogen sein.
Gerade dies sei bei der politisierten KRS nicht der Fall, weil ihre Mitglieder im Wesentlichen vom Sejm, der mit dem Deutschen Bundestag vergleichbaren ersten Kammer des polnischen Zwei-Kammern-Parlaments, gewählt, also nach einem politischen Schlüssel bestimmt werden. Gemessen am Stellenwert, den Kaczyński und Zbigniew Ziobro, Justizminister und Generalstaatsanwalt in Personalunion, der Justizreform zuschreiben, bedeutet eine den Schlussanträgen entsprechende Entscheidung des EuGH eine Niederlage auf ganzer Linie.
Sorge polnischer Richter vor Disziplinarmaßnahmen nun beim EuGH
In dem anderen EuGH-Verfahren (C‑558/18, C‑563/18) müssen die Richter Vorlagefragen der Bezirksgerichte, ähnlich der deutschen Landgerichte, aus Łódź und Warschau zum neuen Disziplinarrecht klären. In ersten Ausgangsverfahren verlangt die Stadt Łowicz vom Fiskus Nachzahlung für die Erfüllung übertragener Zentralverwaltungsaufgaben. Im zweiten Ausgangsverfahren steht die Anwendbarkeit einer besonderen Strafmilderungsvorschrift für Kronzeugen zur Debatte. In beiden Fällen erwägen die Kammern – so die Begründungen der Vorlagebeschlüsse – eine Entscheidung zu treffen, die kaum auf politisches Verständnis treffen dürfte. Daher bestehe eine konkrete Besorgnis von Disziplinarmaßnahmen gegen die erkennenden Richter, sollten diese ein nicht regierungskonformes Urteil sprechen.
In den Schlussanträgen vom 24. September 2019 empfiehlt Generalanwalt Tanchev, die Vorlagen als unzulässig abzuweisen. Für eine Entscheidung in der Sache würden dem EuGH sowohl hinreichende tatsächliche und rechtliche Grundlagen sowie ein konkreter Bezug zu den Ausgangsverfahren fehlen. Kurzum: Sie seien zu allgemein. Angesichts der einschlägigen Regelungen über die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen und die Begründungspflicht aus Art. 94 lit. c) der Verfahrensordnung des EuGH und Art. 267 AEUV ist die Empfehlung nachvollziehbar.
Dennoch dürfen zwei Aspekte nicht ausgeblendet werden: Erstens bezieht sich die Abweisungsempfehlung auf die Form der Vorlage, und nicht auf den materiellen Regelungsgehalt der monierten Disziplinarvorschriften. Sollte der EuGH der Empfehlung des Generalanwalts erwartungsgemäß folgen, bedeutet dies nicht, dass das neue Disziplinarecht europarechtskonform ist. Und zweitens haben wir es mit einer Situation zu tun, in der Richter eines EU-Mitgliedstaats politisch motivierte Repressionen für das Festhalten an ihrer konstitutionell verbrieften Unabhängigkeit annehmen. Denn Ausgangslage sind nicht individuelle Ängste unbotmäßiger Staatsdiener, sondern der reformbedingt schwächelnde Zustand der gesamten Judikative.
EGMR soll zu Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts entscheiden
Zusätzlich ist seit Anfang September 2019 beim EGMR eine Individualbeschwerde eines westpolnischen Rollrasenherstellers wegen abgewiesener Beschwerde am polnischen Verfassungsgericht TK anhängig. Der EGMR wird prüfen, ob der zuständige fünfköpfige Senat des TK den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention an ein "unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht" entspricht.
Der EGMR wird sich insbesondere mit der Rolle des Vizepräsidenten des TK Mariusz Muszyński beschäftigen. PiS wählte Muszyński Ende 2015 zum TK-Richter auf einen bereits besetzten Posten. Das war der Startschuss für ein bis heute andauerndes polnisches Justizdrama. Nun dürfte der in Vergessenheit geratene Streit um die Doppelbesetzungen der Richterposten wieder an Aufmerksamkeit gewinnen.
Erneuter Wahlsieg Kaczyńskis und Folgen für den Rechtsstaat?
Realistisch gesehen werden wohl keine negativen Schlagzeilen, auch keine Belehrungen seitens der "imaginären Gemeinschaft", für die Präsident Andrzej Duda die EU hält, der PiS wirklich schaden können: Sie kann regelmäßig über 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Für die als "eisernes Elektorat" bezeichnete Stammwählerschaft Kaczyńskis scheinen die reputationsschädigende Außenwirkung der Heimatpolitik oder die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit zweitrangig; was zählt sind vor allem die Volksnähe der Regierung und eine Sozialpolitik mit Barleistungen.
Doch zugegeben: Vor PiS hat sich keine Partei so effektiv mit den Belangen der Bedürftigsten beschäftigt. Anders als in Deutschland gab es in Polen bis zuletzt keine spürbaren Sozialleistungen wie etwa Kindergeld, das nun monatlich ca. 125 Euro beträgt. Gleichwohl hat der PiS-Erfolg Schattenseiten, die in der internationalen Berichterstattung keine Schlagzeilen machen. Die medienpräsenten Vertreter der PiS haben der political correctness ausdrücklich die Abfuhr erteilt, die Partei steht zumindest rhetorisch in einer Reihe mit Trump, Orbán oder Putin. Seit dem Wahlsieg im Herbst 2015 verroht die Sprache der Politik. Reden der führenden Abgeordneten wirken in Wort und Ton beleidigend gegenüber "Volksverrätern" und "Polen schlimmster Sorte", weil sie sich nicht auf der Parteilinie bewegen würden.
Die Sprache der Politik färbt ab und trägt erheblich zur Polarisierung der polnischen Gesellschaft bei. Im Mittelpunkt steht nach wie vor Kaczyński als praktisch unabwählbarer Drahtzieher ohne offizielles Amt. Entsprechend verhalten sich die Oppositionsparteien, die sich nach langem Ringen zu drei konkurrierenden Koalitionsblöcken verbunden haben. Nach Einschätzung des 28-jährigen Ministers für Humanitäre Hilfe Michał Woś seien die kommenden Parlamentswahlen die wichtigsten seit 1989, also seit dem Niedergang der sozialistischen Volksrepublik Polen.
Woś soll Recht behalten: Wird die PiS-Politik der letzten Jahre mit einem Wahlsieg bestätigt, ist in der nächsten Legislaturperiode gewiss keine freiheitlich demokratische Mäßigung zu erwarten; eine Verschärfung der Reformwelle wird der Fall sein. Verliert PiS die Macht, wird der Nachfolger vor dem Dilemma stehen, entweder durch die Sanierung des Rechtsstaats für jahrelange Rechtsunsicherheit zu sorgen oder den zuvor kritisierten status quo zu ertragen.
Vor der Wahl: . In: Legal Tribune Online, 07.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38011 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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