Die neue polnische Regierungskoalition will die Justizreform der PiS-Regierung rückabwickeln. Doch das stößt auf rechtsstaatliche Hindernisse. Eine Tagung diskutierte mit Justizminister Adam Bodnar die Probleme. Christian Rath war dabei.
"A Playbook for Reinstating the Rule of Law" (Eine Anleitung zur Wiederherstellung des Rechtsstaats) war der selbstbewusste Titel der Tagung, die Ende vergangener Woche an der Freiburger Universität stattfand. Vereinzelt ging es auch um Ungarn und Israel, im Mittelpunkt stand aber Polen. Grund dafür war nicht zuletzt, dass es der Freiburger Rechtsprofessorin Paulina Starski gelungen war, den neuen polnischen Justizminister Adam Bodnar nach Freiburg zu holen. Bodnar war schon vor seiner Zeit als Justizminister einer der profiliertesten Kritiker der Justizreform der PiS-Regierung.
Die PiS versuchte ab ihrer Regierungsübernahme 2015 die Justiz auf Linie zu bringen. Beim polnischen Verfassungsgericht gelang dies relativ schnell, da die Richter im Parlament (Sejm) mit einfacher Mehrheit gewählt werden. Doch auch die Neueinstellung und Beförderung von Richtern kontrollierte die PiS, indem sie den zuständigen Landesjustizrat, eigentlich ein Selbstverwaltungsorgan der Justiz, unter die Kontrolle des Sejms brachte.
Zwei große Hemmnisse
Die neue Regierung unter Donald Tusk, die im Oktober 2023 gewählt wurde und im Dezember 2023 ihre Arbeit aufnahm, würde gerne die Amtszeit des Landesjustizrats per Gesetz beenden und ihn wieder zu einem unabhängigen Gremium machen. Immerhin war seine Zusammensetzung auch vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) 2021 als Verletzung der Unabhängigkeit der Justiz beanstandet worden.
Doch es gibt zwei große Hemmnisse bei der Rückabwicklung der Justizreform, wie Adam Bodnar darlegte. Zum einen kann Präsident Andrzej Duda (PiS) gegen Gesetze der neuen Mehrheit sein Veto einlegen. Das Veto könnte im Sejm zwar mit 3/5-Mehrheit überstimmt werden, doch die neue Koalition hat nur 248 von 460 Sitzen. Sie muss deshalb auf das Ende von Dudas Amtszeit Mitte 2025 und einen Sieg bei der Neuwahl hoffen.
Zum anderen kann das polnische Verfassungsgericht von der jetzt oppositionellen PiS, aber auch von Präsident Duda angerufen werden. Laut Bodnar agieren die Verfassungsrichter, die durchweg von der alten PiS-geführten Koalition gewählt wurden, sehr parteipolitisch und versuchen, Vorhaben der neuen Mehrheit mit einstweiligen Anordnungen zu stoppen.
Die Situation sei heute, so Bodnar, eine ganz andere als 1989 bei der ersten Transformation nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen. "Die Post-Kommunisten haben damals kooperiert, während die Situation heute extrem polarisiert ist", erklärte der Minister. Außerdem sei Polen heute EU-Mitglied, was ganz andere Rahmenbedingungen schaffe. So habe die Sperrung von Geldern unter Verweis auf die Justizreform der polnischen Zivilgesellschaft ebenso geholfen wie die Urteile des EuGH. Und die neue Regierung kann nun bei der Rückabwicklung der Justizreform ebenfalls auf die EuGH-Rechtsprechung als Maßstab verweisen.
Konstitutioneller Neustart vorgeschlagen
Bis zur Neuwahl des Staatspräsidenten können Gesetze zur Rückabwicklung der Justizreform nur vorbereitet, aber nicht verabschiedet werden. Neben der Neuzusammensetzung des Landesjustizrats soll das Amt des Justizministers wieder vom Amt des polnischen Generalstaatsanwalts getrennt werden. Bodnars Vorgänger Zbigniew Ziobro hatte die beiden Ämter erst 2016 zusammengeführt.
Zudem will die neue Regierung einen Neustart am polnischen Verfassungsgericht vorschlagen. So soll die Amtszeit der jetzigen Verfassungsrichter per Gesetz beendet werden und ein neues, ausgewogen besetztes Verfassungsgericht geschaffen werden. Die Richter sollen dann mit 3/5-Mehrheitstatt einfacher Mehrheit gewählt werden. Hierfür bräuchte die Tusk-Regierung aber eine verfassungsändernde Mehrheit. Bodnar lud daher die anderen Parteien zu einem "konstitutionellen Neustart" ein. Es gilt aber als eher unwahrscheinlich, dass sich die PiS hieran beteiligt.
Neo-Richter bleiben vorerst im Amt
Derzeit werden keine Richter für die ordentliche Gerichtsbarkeit eingestellt, damit der unreformierte Landesjustizrat nicht beteiligt werden muss. Die vom Landesjustizrat von 2018 bis Ende 2023 nominierten neuen Richter, die in Polen "Neo-Richter" genannt werden, bleiben bis auf weiteres im Amt. Nach Angaben Bodnars handelt es sich um mehr als 2.000 der rund 9.000 polnischen Richter.
Geplant ist eine Evaluierung, sobald das entsprechende Gesetz beschlossen werden kann. Wie am Rande der Tagung zu hören war, haben wohl 98 Prozent der Neo-Richter nichts zu befürchten, weil es sich um Absolventen von Uni und Richterschulen handelt, die auch von einem unabhängigen Landesjustizrat eingestellt worden wären. Als problematisch gelten dagegen Seiteneinsteiger, also Anwälte und Staatsanwälte, die unter der PiS-Regierung Richter wurden, sowie linientreue Richter, die in der PiS-Ära befördert wurden.
Adam Bodnar ist die Stabilität der Justiz wichtig. Urteile, an denen Neo-Richter mitwirkten, sollen ihre Rechtskraft behalten. "Wer sich 2020 scheiden ließ, soll dies nun nicht in Frage stellen können, weil damals ein Neo-Richter mitwirkte", betonte der Minister.
Rechenschaft und Rehabilitation
Für ihr Verhalten in der PiS-Ära sollen Richter auch zur Rechenschaft gezogen werden. Etwa 30 Fälle seien wichtig genug, um strafrechtlich untersucht zu werden. Allerdings gingen straf- und auch disziplinarrechtliche Ermittlungen langsam voran, so Bodnar. Im Parlament gebe es zudem drei Untersuchungsausschüsse zu Justizthemen.
Als ein Beispiel für sanktionswürdiges Verhalten nannte Bodnar eine Hasskampagne von linientreuen Richtern gegen dissidente Richter, die der damalige Vize-Justizminister 2017 und 2018 orchestrierte.
Der aktuelle Justizstaatssekretär/ Dariusz Mazur, der auch in Freiburg sprach, arbeitet an der Wieder-Abberufung von Gerichtspräsidenten, die in der PiS-Zeit ins Amt gekommen waren. Schon mehr als 50 Personen wurden ihres Amtes enthoben, circa hundert Verfahren laufen noch. Das reduziere nicht nur die Einschüchterung an den Gerichten, so Mazur, sondern mache diese auch effizienter. Die linientreuen Gerichtspräsidenten seien oft keine erfahrenen und begabten Gerichtsmanager gewesen.
Justizopfer der PiS-Ära sollen rehabilitiert werden. Dazu gehören vor allem Richter, die den Neo-Richtern unter Berufung auf die EuGH-Urteile die Anerkennung verweigerten und dafür sanktioniert wurden. Ende 2021 seien 10 Richter für 30 Tage suspendiert und vier Richter dauerhaft entlassen worden.
Laufende Disziplinarverfahren gegen Richter werden jetzt von ad hoc-Disziplinar-Kommissionen geprüft. Das Instrument war von der alten Mehrheit eingeführt worden, um Verfahren gegen Richter einzuleiten. Mazur will es nutzen, um Verfahren zu beenden. Man müsse vorhandene Instrumente kreativ nutzen, solange man keine neuen Gesetze beschließen kann.
Das Verfassungsgericht wird ignoriert
"Wir sind erst am Anfang der Transformation", sagte Justizminister Adam Bodnar in Freiburg. Sie werde vielleicht die ganze Wahlperiode dauern. Er sei daneben ja auch noch für das gute Funktionieren der Justiz zuständig: "Wenn eine Scheidung zu lange dauert, dann ist es den Leuten egal, welcher Richter sie vornimmt", so Bodnar.
Bodnar versicherte, dass er alle Schritte mit rechtsstaatlichen Mitteln vollziehen werde. Es werde keine revolutionären Aktivitäten geben. "Die Maßnahmen müssen von der EU und der Venedig-Kommission akzeptiert werden", sagte Bodnar. Die Venedig-Kommission ist ein Gremium des Europarats für Justiz- und Verfassungsfragen.
Besonders heikel ist dabei der Umgang mit dem polnischen Verfassungsgericht. Dessen Entscheidungen werden seit einigen Monaten einfach ignoriert. Bodnar sagte, das Verfassungsgericht könne als Institution nicht mehr ernst genommen werden. Es habe laut Umfragen nur noch das Vertrauen von 25 Prozent der Bevölkerung.
Grundlage für die Missachtung ist eine Resolution des Sejms, die dem polnischen Verfassungsgericht Anfang März 2024 die Legitimität absprach und sich wiederum auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bezog. 2021 hatte der EGMR entschieden, dass das polnische Verfassungsgericht kein "auf Gesetz beruhendes Gericht" darstelle, solange drei Richter mitwirken, die in der Anfangszeit der PiS-Regierung ins Amt kamen, obwohl bereits drei andere Richter gewählt waren.
Bodnar sagte, er nehme nicht mehr an Verhandlungen des polnischen Verfassungsgerichts teil, obwohl er dazu eigentlich verpflichtet ist. Noch nicht entschieden sei, ob Premierminister Tusk die Urteile des Verfassungsgerichts veröffentlicht, was eine Voraussetzung für ihre Wirksamkeit ist. Die PiS-Regierung hatte Urteile des Verfassungsgerichts zeitweise nicht publiziert, solange das Gericht noch nicht mehrheitlich mit eigenen Leuten besetzt war.
Bodnar lehnte aber Vorschläge ab, das polnische Verfassungsgericht einfach aufzulösen. "Wie soll das gehen?", fragte er, "soll ich die Polizei hinschicken und den Strom abdrehen?"
Für radikale Lösungen
Es gibt in Polens neuer Mehrheit aber auch Stimmen, die ein allzu rechtsstaatliches Vorgehen ablehnen. Einer von ihnen ist Rechtsprofessor Wojciech Sadurski, der an der Uni Sydney lehrt und in Freiburg per Video zugeschaltet wurde. Er kritisierte die Maxime "man kann die rule of law nicht herstellen, indem man sie bricht". So etwas klinge zwar "nett", sei aber "kompletter und völliger Blödsinn". Rechtsstaatlichkeit funktioniere nur im eigenen Habitat, in einer gut geordneten Demokratie. "Wenn es Regeln gibt, die gemacht wurden, um das Ancien Regime zu versteinern, dann kann man sie entweder beachten und sich damit selbst lähmen oder man ignoriert sie."
Sadurski plädierte dafür, in der "sehr speziellen Transformations-Periode" die traditionellen Strukturen der Rule of Law nicht anzuwenden und insbesondere die Amtszeit des bestehenden Verfassungsgerichts sofort zu beenden. Natürlich könne man dann auch die Polizei einsetzen, antwortete er auf die Frage Bodnars, aber vielleicht genüge auch der Sicherheitsdienst des Gebäudes oder die Einstellung der Besoldung der Richter.
Unterstützt wurde er von Miroslaw Wyrzykowski, einem früheren Verfassungsrichter, der auch wissenschaftlicher Mentor von Adam Bodnar war. "Wir können nicht das Haus putzen und saubere Hände behalten", sagte er. Notwendige Maßnahmen seien wie eine Medizin, die unbeabsichtigte Nebenwirkungen hat. "Effektives Handeln ist notwendig, sonst ist die Öffentlichkeit enttäuscht und wendet sich ab."
Ähnlich argumentierte auch die polnische Rechtsprofessorin Aleksandra Kustra-Rogatka. "Eines der größten Risiken des evolutionären Wegs ist die Ermüdung und Frustration der Änderungswilligen", sagte sie in Freiburg.
Gegen radikale Lösungen
Doch es gab auch vehemente Gegenstimmen, etwa von Rechtsprofessor András Jakab, der an der Uni Salzburg lehrt. "Dass die anderen die Rechtsstaatlichkeit verletzt haben, rechtfertigt keine eigenen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit." Einen Rechtsbruch könne es bei der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit nur nach einer Diktatur wie in Russland geben. Polen dagegen sei keine Diktatur gewesen, sondern ein hybrides Regime. Autokratische Justizreformen wie in Polen und Ungarn seien nur möglich gewesen, weil dort das rechtskulturelle Immunsystem zu schwach gewesen sei. Durch die Missachtung rechtsstaatlicher Standards bei der Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit werde es weiter geschwächt, so Jakab. "Man gewinnt eine Schlacht, verliert aber den Krieg", warnte der Ungar.
Auch Rechtsprofessor Joseph H.H. Weiler aus New York, warnte vor handstreichartigen Maßnahmen. Daraus lerne die Bevölkerung doch nur, dass man so vorgehen kann. "Und wenn beim nächsten Mal wieder die anderen gewinnen, dann haben sie die Lizenz, das Gleiche zu tun", so Weiler.
Die Berliner Rechtsprofessorin Anna-Bettina Kaiser schlug vor, die europäischen Gerichte oder die Venedig-Kommission über die Zulässigkeit von Maßnahmen entscheiden zu lassen. So könne eine weitere innerstaatliche Polarisierung verhindert werden.
Für ausgewogene Radikalität
Die Tagungsregie von Paulina Starski setzte zwei vermittelnde Stimmen an den Schluss.
Der Ire Tom Daly, der in Melbourne lehrt, sieht bei der konstitutionellen Reparatur eine gewisse Notwendigkeit für revolutionäre Akte, will sie aber domestizieren. "Wir müssen verhindern, dass die Rule of Law nur Legalität ist", es komme auch auf materielle Standards an. Und hier sei es für die Bevölkerung schwer erträglich, mit einer schizophrenen Rechtsordnung zu leben, bei der offensichtlich rechtsstaatswidriges Recht weiter angewandt werden muss, weil es (noch) nicht geändert werden kann.
Zu revolutionären Schritten will Daly aber nur greifen, wenn es keine legalen Alternativen gibt. Außerdem will er die Zulässigkeit von rechtsstaatswidrigem Vorgehen auf maximal drei Jahre beschränken.
Ähnlich argumentierte Ex-Verfassungsrichter Johannes Masing. Nicht-rechtsstaatliche Verfahren hält er nur für legitim, wenn es um große strukturelle Änderungen geht und dabei rechtsstaatswidrige durch ausgewogene Lösungen ersetzt werden, die auch die Interessen der Opposition berücksichtigen. Ein Beispiel war für Masing die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Polen, der in einer zupackenden Aktion Anfang des Jahres vom Propagandasender der Regierung wieder zu einem Medium der offenen Kommunikation wurde.
Zentral ist für Masing, dass eine Maßnahme auch von der Mehrheit der Öffentlichkeit als fair akzeptiert werden kann. Das zu prognostizieren, sei aber eine politische Frage, bei der Juristen den Politikern nur bedingt helfen können.
Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54840 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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