Der BGH hat auch Personen Pflichtteilsergänzungsansprüche zugebilligt, die bei einer vorherigen Schenkung noch nicht pflichtteilsberechtigt waren. Noch zehn Jahre nach der Schenkung später führt das zu Unsicherheiten für alle Beteiligten. Diese Ausweitung des rechtspolitisch ohnehin umstrittenen Pflichtteilsrechts könnte Anlass sein, dieses abzuschaffen oder grundlegend zu ändern, meint Herbert Grziwotz.
Verschenkt jemand einen Vermögensgegenstand und verstirbt er innerhalb von zehn Jahren nach Vollzug der Schenkung, haben pflichtteilsberechtigte Personen, die deshalb (teilweise) leer ausgehen, einen Anspruch auf Pflichtteilsergänzung (§ 2335 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB). Während dieser aber bisher davon abhing, dass der Pflichtteilsberechtigte bei der Schenkung bereits existierte, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) am vergangenen Mittwoch, dass der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB nicht voraussetzt, dass die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestand (BGH, Urt. v. 23.05.2012, Az. IV ZR 250/11).
Damit gibt der IV. Senat seine bisherige Rechtsprechung auf. Bislang galt: Wer als Kind noch nicht geboren, als Adoptivkind noch nicht adoptiert, als (neuer) Partner noch nicht geheiratet oder verlebenspartnert war, konnte später nach dem Ableben des Erblassers wegen der vorher erfolgten Schenkung keine Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend machen. Bei leiblichen Kindern war umstritten, ob maßgeblicher Zeitpunkt derjenige der Geburt oder der nicht immer ganz leicht nachweisbaren Zeugung war.
Wer zu spät kam, den bestrafte diese Rechtsprechung. Er konnte nämlich, so der für das Erbrecht zuständige IV. Zivilsenat, auf den weggeschenkten Vermögensgegenstand hinsichtlich seiner Pflichtteilsansprüche nicht vertrauen.
Back to the roots: Gleiches Recht für alle Abkömmlinge
Schon bei den Vorarbeiten zum BGB war ausführlich diskutiert worden, ob der Pflichtteilsberechtigte im Zeitpunkt der Schenkung bereits vorhanden gewesen sein muss. Die Mehrheit der Verfasser hatte sich dagegen entschieden, so dass alle zur Zeit des Erbfalls vorhandenen Pflichtteilsberechtigten weitgehend geschützt wurden.
Begründet wurde das Pflichtteilsrecht damals damit, dass die Existenzgrundlage der Kinder gesichert werden sollte, die noch in der Ausbildung waren. Außerdem sollte Vermögen nicht in einer Hand immer stärker wachsen, sondern beim Erbfall zumindest teilweise verteilt werden. Insbesondere das erste Motiv des Gesetzgebers ist heute nicht mehr von Bedeutung. Wenn Kinder zur Erbfolge gelangen, sind sie meist selbst bereits im Rentenalter. Bloß mit Blick auf die leeren Rentenkassen könnte das Pflichtteilsrecht also seine ursprüngliche Aufgabe noch teilweise erfüllen.
Allerdings ist dem Pflichtteilsrecht auch der Bestandschutz fremd, auf den der BGH in seiner früheren Rechtsprechung abgestellt hatte. Pflichtteilsberechtigt sind auch Kinder, die ihren Vater niemals kennengelernt haben, und die Ehegatten, die getrennt leben, ohne dass die Scheidungsvoraussetzungen vorliegen. Ein Vertrauen darauf, von einem bestimmten Vermögensgegenstand "etwas abzubekommen", wenn der Erblasser (endlich) stirbt, ist nicht Voraussetzung der Pflichtteilsberechtigung.
BVerfG: Nachlassteilhabe und warum Blut dicker ist als Wasser
Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern ein tragendes Strukturprinzip des geltenden Pflichtteilsrechts ist. Es steht unter dem Schutz der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. I 1 Grundgesetz (GG), so die Karlsruher Richter (Beschl. v. 19.04.2005, Az. 1 BvR 1644/00 und 1 BvR 188/03). Zur Begründung stellt das BVerfG auf die lange Tradition der Teilhabe der Kinder am Nachlass des Erblassers ab, die schon im Römischen und in den germanischen Rechten verankert war.
Das Pflichtteilsrecht soll ferner in einem engen Sinnzusammenhang mit dem Schutz des Verhältnisses zwischen dem Erblasser und seinen Nachkommen stehen, den Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet. Es ist Bestandteil der familiären Verantwortlichkeit füreinander, welche von der wechselseitigen Pflicht von Eltern und Kindern zu Beistand und Rücksichtnahme geprägt ist: "Die strukturprägenden Merkmale der Nachlassteilhabe von Kindern sind Ausdruck einer Familiensolidarität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern besteht. Art. 6 Absatz 1 GG schützt dieses Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander sowohl materiell als auch persönlich Verantwortung zu übernehmen."
Diese Verpflichtung zur gegenseitigen umfassenden Sorge rechtfertigt es nach Ansicht des höchsten deutschen Gerichts, dem Kind mit dem Pflichtteilsrecht auch über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Basis aus dessen Vermögen zu sichern. Dies soll auch gerade dann gelten, wenn er und seine Kindern sich entfremdet haben oder ihre Beziehung gar zerrüttet ist. Das Pflichtteilsrecht begrenzt somit die Testierfreiheit des Erblassers und die mit ihr eröffnete Möglichkeit, ein Kind durch Enterbung zu bestrafen.
Ausweitung eines nicht mehr zeitgemäßen Pflichtteilsrechts?
Legt man diese Auffassung zugrunde, gibt es für eine unterschiedliche Behandlung von zum Zeitpunkt der Schenkung bereits geborenen und nachgeborenen Abkömmlingen keine Begründung. Auch noch nicht geborene oder adoptierte Kinder sind in die Familiensolidarität einbezogen. Dies gilt auch für Personen, für welche die Familie keine Rolle spielt, die sich aber noch nicht so vehement daneben benehmen, dass ihnen der Pflichtteil entzogen werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die Kehrtwendung des BGH durch die Aufgabe der von ihm vertretenen so genannten Theorie der Doppelberechtigung konsequent.
Allerdings führt diese Rechtsprechungsänderung zu neuen Problemen im Spannungsfeld zwischen Testierfreiheit und Mindestbeteiligung am Nachlass. Der Senat mischt sich mit seiner Entscheidung jedenfalls mittelbar in die ohnehin schwelende Diskussion darüber ein, ob es zeitgemäß ist, bloß Blut dicker sein zu lassen als Wasser.
Das Pflichtteilsrecht besteht unabhängig davon, ob sich ein Kind um seine alten Eltern gekümmert oder jahrzehntelang jeden Kontakt mit ihnen vermieden hat. So können Personen in den Genuss einer Vermögensbeteiligung kommen, bei denen es außer der in das Reich der Mythen gehörenden Familiensolidarität keine echte Begründung für eine Nachlassbeteiligung gibt.
Heiratet der verwitwete Vater, der gemeinsam mit seiner verstorbenen ersten Ehefrau das Haus an das gemeinsame Kind übergeben hat, steht bei seinem Tod auch der neuen Partnerin gegenüber dem beschenkten Kind ein Pflichtteilsergänzungsanspruch zu, wenn man die neue Rechtsprechung nicht bloß auf Abkömmlinge beschränken möchte, auf welche die Entscheidung des BVerfG abstellte.
Die Diskussion wird weitergehen
Besteht gegenüber der im Alter geheirateten Partnerin, die bereits über eine ausreichende Altersvorsorge verfügt oder aufgrund ihres Alters selbst eine solche noch aufbauen kann, wirklich eine so weit gehende Fürsorgepflicht? Deren Annahme kann bei einem übergebenen Unternehmen sogar zur Existenzgefährdung und damit auch zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze führen. Und während der Seniorchef mit seiner Ehefrau zur Sicherung des Unternehmensnachfolgers einen gegenständlich beschränkten Pflichtteilsverzicht vereinbaren kann, ist ihm dies mit einem minderjährigen Nachzüglerkind aus der neuen Beziehung nicht möglich.
Das beschenkte Kind aus erster Ehe, das bereits jahrelang im Betrieb mitgearbeitet hat, kann nach der neuen Rechtsprechung nur hoffen und beten, dass der Vater noch möglichst lange nach Vollzug der Schenkung lebt. Erfüllt sich diese Hoffnung zehn Jahre lang, hat der kleine Bruder oder die kleine Schwester nämlich keine Pflichtteilsergänzungsansprüche mehr. Und pro vollendetem Jahr entfällt zumindest ein Zehntel der Pflichtteilsergänzung. Stirbt der Vater kurz nach der Zeugung oder der Geburt, kann sich ein Pflichtteilergänzungsanspruch von bis zu einem Viertel des Unternehmenswertes ergeben.
Die Rechtsprechungsänderung des BGH zu Pflichtteilsergänzungsansprüchen bei der Schenkung noch nicht vorhandener Berechtigter mag dogmatisch schlüssig sein. Sie führt jedoch zu einer Ausweitung des Pflichtteilsrechts, das aufgrund der geänderten Familienstrukturen ohnehin rechtspolitisch umstritten ist. Die Forderungen nach seiner Abschaffung oder zumindest seiner Änderung dahingehend, dass auf die konkrete Übernahme von Verantwortung, vor allem die Sicherung des Unterhalts oder die Honorierung von Pflegeleistungen abgestellt wird, dürften nach dieser Entscheidung kaum leiser werden.
Der Autor Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz ist Notar in Regen und Zwiesel und Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen u.a. zum Erb-, insbesondere zum Pflichtteilsergänzungsrecht.
Herbert Grziwotz, Pflichtteilsergänzungsanspruch für Ungeborene: . In: Legal Tribune Online, 29.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6282 (abgerufen am: 10.11.2024 )
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