CDU, SPD und Die Grünen wollen in NRW eine Sperrklausel von 2,5 Prozent für Kommunalwahlen ab 2020 einführen. Der Landtag sucht dabei die direkte Konfrontation mit dem BVerfG, meinen Robert Hotstegs und Jan Stock.
Mit einer vorprogrammierten, überwältigenden Mehrheit haben die Fraktionen von SPD, CDU und Bündnis 90 / Die Grünen in NRW den Entwurf eines Kommunalvertretungsstärkungsgesetzes vorgelegt. Es soll eine Sperrklausel von 2,5 Prozent bei nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen einführen. Dazu soll nicht nur das Kommunalwahlgesetz geändert oder eine verfassungsrechtliche Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers geschaffen werden, sondern die Sperrklausel soll unmittelbar in die Landesverfassung.
Ein Taschenspielertrick, um das Landes- und das Bundesverfassungsgericht zu umgehen. Das Risiko, gegen Art. 28 Grundgesetz (GG) zu verstoßen, ist dem Landtag bekannt und bewusst. Er geht es ein, weil er die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) für falsch hält. Und weil er seine Möglichkeiten überschätzt, dem BVerfG den Boden dieser Rechtsprechung zu entziehen.
Dabei müssten die Abgeordneten eigentlich erkennen, dass sie spätestens seit der Expertenanhörung am gestrigen Donnerstag "bösgläubig" sind.
Verlorene Stimmen: Gleichheit der Wahl tangiert
Zwei Ausschüsse, jeweils sieben Stunden Anhörung und ein Landtag, der seine Autonomie gegenüber dem BVerfG behaupten möchte, das ist das Resultat der Sachverständigen-Anhörung in Düsseldorf. Dabei haben die Fachleute zu Recht deutlich gemacht, dass sich der Gesetzgeber, wenn er eine Sperrklausel einführen will, stets in einer Verteidigungsposition gegenüber den Verfassungsgerichten befindet.
Jede Sperrklausel berührt den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 31 Abs. 3 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen niedergelegt ist. Denn eine solche Klausel hat zur direkten Folge, dass den Stimmen für Wahlbewerber, welche die Grenze nicht erreichen, kein Erfolgswert zukommt. Sie gehen quasi verloren. Das akzeptiert das BVerfG, wenn zwingende Gründe vorliegen. Der Wunsch nach einfach zu handhabenden Mehrheitsverhältnissen genügt nicht.
Will der Gesetzgeber dennoch von Sperrklauseln Gebrauch machen, kann er dies also nur, wenn er den Eingriff rechtfertigt. Anerkanntermaßen kann die Wahlrechtsgleichheit daher eingeschränkt werden, um die Funktionsfähigkeit von Räten und Kreistagen sicherzustellen.
Bei jeder Änderung an den Stellschrauben des Wahlrechts ist aber Vorsicht geboten und eine Begründung mitzuliefern. Schließlich bestimmt der Landtag in quasi eigenen Angelegenheiten. Je nach Partei und geplanter Änderung nutzt das neue Wahlrecht also vielleicht den Mitgliedern des Landtags selbst.
Wenn der Wähler nicht wählt, wie man's gern hätte…
So auch in Nordrhein-Westfalen. Die bisherige Gesetzesbegründung, zwei Gutachten der SPD-Fraktion und die von CDU, SPD und Grünen benannten Experten machten im Kern deutlich, dass die Sperrklausel in diesem Jahr vor allem dazu dienen soll, den Willen des Wählers zu korrigieren. Der macht nämlich nicht, was die Mitglieder des Landtags gern hätten, er wählt nicht etwa die etablierten großen Parteien und er sorgt auch nicht für stabile Mehrheiten hinter den Bürgermeistern.
Der Wähler orientiert sich seit vielen Jahren immer wieder um. Auf ihn ist kein Verlass. Er gibt vor Ort Parteien und Bündnissen, ja manchmal sogar Einzelkandidaten eine Chance auf ein Mandat, die man im fernen Düsseldorf nicht als politischen Mitbewerber ernst nimmt.
Das kann man beklagen. Man kann es aber auch für die natürliche Folge einer Demokratie halten.
Vielleicht wäre für die verfassungsändernde Mehrheit im Landtag sogar akzeptabel, dass Räte statt aus drei Fraktionen heutzutage gerne aus fünf bis sieben Gruppen bestehen. Vielleicht würde die Mehrheit auch Einzelkandidaten akzeptieren, wenn, ja wenn diese in Räten und Kreistagen nicht aus etablierter Sicht unangenehm auffallen würden. Sie beanspruchen nämlich finanzielle Mittel von der jeweiligen Kommune. Sie haben Antragsrechte im Rat und in den Ausschüssen.
Schließlich gibt es ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von der konkreten Mitarbeit von Einzelmandatsträgern, Gruppen und kleinen Fraktionen. Während die einen in der Expertenanhörung beklagten, dass die "Kleinen" politisch unerfahren seien, kein Fachwissen einbrächten und kaum mitwirkten, gaben die kommunalen Spitzenverbände eine enorm erhöhte Arbeitsbelastung ihrer Mitglieder zu Protokoll. Anfragen an die Verwaltung seien zum Teil um bis zu 40 Prozent gestiegen, ebenso Anträge auf Akteneinsicht in Verwaltungsvorgänge.
Das ist lästig. Das macht Arbeit. Das bindet Personal und verschleißt mitunter sicherlich auch Nerven.
Aber es taugt nicht zur Begründung eines einfachen Sperrklausel-Gesetzes. Darin waren sich alle Experten und auch die Landtagsabgeordneten einig.
2/2: Landtag will eine Verfassungsautonomie ausreizen, die er nicht hat
Der Gesetzgeber will daher die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte umgehen und die Klausel gezielt in der Landesverfassung verankern. Damit schwimmt er sich von jeglicher Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs in Münster frei. Denn dieser wird wohl kaum verfassungswidriges Verfassungsrecht anhand der Verfassung feststellen. Auch schreibt man den Richtern in Münster nicht die Rolle zu, die Landesverfassung am Grundgesetz scheitern zu lassen. Indem die Klausel also an höchster landesrechtlicher Stelle platziert ist, hofft man den Verfassungsgerichtshof quasi kalt gestellt zu haben.
Aber der Landtag sollte das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe nicht unterschätzen. Und genau dies tut er, die siebenstündige Anhörung der Experten am Donnerstag war ihm nicht Warnung genug. Nur wenige der Juristen wollten ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass die Sperrklausel in der Landesverfassung an Art. 28 GG gemessen und für verfassungsgemäß befunden werden könnte. Die allermeisten sprachen von "bleibenden Restzweifeln".
Dem Landtag muss das zumindest angesichts der Rechtsprechung des BVerfG zur Sperrklausel im Europawahlrecht zu denken geben. Nacheinander erklärte Karlsruhe eine 5-%-Klausel und danach eine 3-%-Klausel für verfassungswidrig. Auch das Bundestagswahlrecht wurde von Karlsruhe mehrfach in seine Schranken verwiesen.
Der Gesetzgeber müsste sich also für die geplante Verfassungsänderung um eine fundierte Tatsachengrundlage bemühen, etwa zur Bedeutung von direkt gewählten parteiungebundenen Einzelbewerbern. Oder auch zur Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidungsfähigkeit der Kommunalvertretungen durch kleine Parteien oder Gruppen beeinträchtigt wird. Bisher gelang das nicht. Auch Prof. Dr. Jörg Bogumil (Ruhr-Universität Bochum), der umfassende Auswertungen der Wahlstatistiken und Befragungen der Bürgermeister durchführte, blieb den Beweis einer echten Störung der Vertretung vor Ort schuldig. Allein bei der Feststellung, ohne Sperrklausel begünstige das Verhältniswahlrecht das Aufkommen der "Kleinen", kann der Landtag aber nicht stehen bleiben. Schwerfälligkeiten darf der Verfassungsgesetzgeber nicht mit Funktionsunfähigkeit gleichsetzen. Nur wenn der echte Beweis gelingt, dass die Störung eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht, ist zu erwarten, dass das BVerfG eine Sperrklausel durchwinkt.
NRW ist nicht Berlin. Aber wie Schleswig-Holstein
Das gilt sowohl für eine Klausel auf einfachgesetzlicher Ebene als auch für eine in der Landesverfassung selbst. An diesem Gesamtergebnis, dass kommunale Politik oft anstrengend, Meinungsbildung zeitaufwändig und Kontrollrechte der Räte auch lästig für Bürgermeister sein können, ändert sich durch die Verlagerung der Sperrklausel in die Verfassung nichts. Auch hier muss eine größere Beeinträchtigung dargelegt werden, nicht bloß der Komfortverlust von politischen Verhältnissen mit drei Parteien.
Allein der Landtag in Nordrhein-Westfalen glaubt, Art. 28 GG binde ihn nicht im vollen Wortlaut. Dabei verfolgt die Vorschriftallein den Zweck, die Freiheit der Länder zu begrenzen. Deshalb "muss" die Ordnung den Grundsätzen des Rechtsstaats entsprechen und deshalb "muss" die Volksvertretung aus gleichen Wahlen hervorgehen.
Diese Erkenntnis beantwortet auch die Frage, warum die aktuelle Rechtsprechung zu erlaubten Sperrklauseln in Berlin und Hamburg auf Nordrhein-Westfalen nicht übertragbar ist. Dort waren die Sperrklauseln nicht am Grundgesetz gescheitert, nicht an der Gleichheit der Wahl. Denn beide Stadtstaaten haben Sperrklauseln nicht in den Gemeinden etabliert, sondern in den Bezirken. Diese genießen aber eben nicht die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG und auch nicht die Garantie der eigenen Vertretung aus Art. 28 Abs. 1 GG. Sie könnten sogar ohne Bezirksvertretung existieren, mithin also auch mit einer Sperrklausel. "NRW ist nicht Berlin", fasste bereits Dietlein bei LTO diesen Rechtsvergleich zusammen. NRW ist auch nicht Hamburg.
Das bevölkerungsreichste Bundesland ist eher mit den anderen Flächenländern zu vergleichen. Die Größe seiner Städte und Gemeinden bietet kein sachliches Unterscheidungskriterium. Daher ist NRW "wie Bayern". Es ist auch "wie Schleswig-Holstein", obwohl im Landtag am Donnerstag mit Unbehagen davon gesprochen wurde, dass man einen Stadtrat im Rheinland doch nicht ernsthaft mit einer Stadtvertretung auf Fehmarn vergleichen könne. Doch, man kann. Und es besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass das BVerfG dies täte, wenn es darüber zu entscheiden hätte.
Klageverfahren werden allseits erwartet
Es ist, obwohl ein Verfassungsrechtler dies am Donnerstag im Landtag anregte, nicht zu erwarten, dass tatsächlich die Landesregierung selbst das geplante Kommunalvertretungsstärkungsgesetz in Karlsruhe vorlegt, um Rechtssicherheit zu schaffen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Eher ist damit zu rechnen, dass eine einzelne Partei oder mehrere Parteien den Organstreit suchen wie im Jahr 2008, als die ÖDP die damalige Sperrklausel in NRW kippte. Oder es kommt parallel zu Wahlanfechtungen direkt nach der nächsten Kommunalwahl 2020. Diese Verfahren müssten wohl durch den gesamten Instanzenzug getragen und schließlich mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Ein mühsamer Weg.
Sowohl Sowohl die kleinen Parteien, die so mühsam den Gesetzgeber prozessual wieder korrigieren (lassen) müssen, als auch die großen Parteien, die über die "Mühe" der Demokratie vor Ort klagen, könnten sich ihrer Mühen entledigen. Prof. Dr. Janbernd Oebbecke machte dies am Donnerstag im Landtag deutlich: Die Dauer der Sperrklausel-Debatte hätte man weitaus sinnvoller nutzen können, um die Demokratie vor Ort zu verbessern.
Die Bürger von Nordrhein-Westfalen haben etwa 2008 den Wunsch nach dem sogenannten Kumulieren und Panaschieren in einer überwältigenden Volksinitiative geäußert. Die Unterschriftenlisten lagern noch im Keller des Landtags. Der Weg dorthin ist kürzer als der nach Karlsruhe und zurück.
Der Autor Robert Hotstegs ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf. Der Autor Jan Stock ist Rechtsreferendar in der Anwaltsstation.
Robert Hotstegs, NRW plant Sperrklausel für Kommunalwahlen: Kräftemessen mit Karlsruhe . In: Legal Tribune Online, 23.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18245/ (abgerufen am: 24.09.2023 )
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