Erstmals seit den jüngeren Terroranschlägen hat ein oberes Gericht über die Lage in Afghanistan entschieden. Es bestehe dort nach wie vor keine landesweite individuelle Bedrohung, so das OVG in Koblenz. Abschiebungen sind demnach möglich.
In Afghanistan besteht aufgrund des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auch nach dem Anschlag auf die deutsche Botschaft am 31. Mai 2017 nicht landesweit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit für jede dorthin zurückkehrende Zivilperson. Dies entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz in Koblenz (Beschl. v. 01.09.2017, Az. 8 A 11005/17). Die Sicherheitslage habe sich zwar weiter verschlechtert, aber nicht so weit, dass dies zu einer neuen Einschätzung führen müsste, teilte ein OVG-Sprecher auf Anfrage der LTO mit. Die Bundesregierung hatte die Sicherheitslage in Afghanistan nach Anschlag überprüfen lassen, Abschiebungen aber nicht ausgeschlossen.
Der Kläger ist ein junger Mann afghanischer Staatsangehörigkeit. Nach Ablehnung seines Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erhob er Klage, die das Verwaltungsgericht (VG) Trier abwies (Urt. v. 15.02.2017, Az. 6 K 4628/16). Die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Grundgesetz (GG) komme ebenso wie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) nicht in Betracht, weil das von ihm geschilderte Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft sei.
Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts lägen ebenfalls nicht vor. Mit seinem hiergegen eingelegten Antrag auf Zulassung der Berufung machte der Kläger geltend, nach der aktuellen Sicherheitslage sei mittlerweile von einer landesweiten Bedrohung in Afghanistan auszugehen. Das OVG bestätigte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und lehnte den Zulassungsantrag ab.
Konflikt regional unterschiedlich ausgeprägt
Zur Begründung führe der 8. Senat an, die Sicherheitslage in Afghanistan ließe sich nicht allgemeingültig beantworten. Hierfür sei die Ausprägung des Konflikts regional zu unterschiedlich.
Das OVG habe in seiner bisherigen Entscheidungspraxis für mehrere afghanische Provinzen angenommen, dass der Grad willkürlicher Gewalt durch den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kein so hohes Niveau erreiche, dass für jede dorthin zurückkehrende Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit bestehe (OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.03.2012, Az. 8 A 11048/10). Gefahren, denen die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist, stellen hingegen gerade keine individuelle Bedrohung dar, stellte der Senat im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH klar (EUGH, Urt. v. 17.02.2009, Az. C-465/07 Elgafaji).
Die bisher ergangene sonstige obergerichtliche Rechtsprechung komme ebenfalls durchgängig zu dem Ergebnis, dass in Afghanistan jedenfalls keine landesweite individuelle Bedrohung jeder sich im Staatsgebiet aufhaltenden Zivilperson im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts anzunehmen sei. Eine derartige Beurteilung bedürfte es, um – wenn schon keinen Schutzstatus – so doch einen Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festzustellen. Doch für einzelne Regionen sei eine derartige Gefährdung nicht festzustellen, entschied der Senat (BayVGH, Beschl. v. 20.01.2017, Az. 13a ZB 16.30996; OVG Lüneburg, Urt. v. 19.09.2016, Az. 9 LB 100/15 u.a. ).
2/2: Veränderung seit dem Terrorakt Ende Juni
Das OVG nennt eine Vielzahl von Urteilen mit gleicher Einschätzung der Sicherheitslage für verschiedene Regionen Afghanistans, in denen die Senate stets zum selben Ergebnis gekommen sind wie jetzt. Die entscheidende Frage war, ob sich die Sicherheitslage inzwischen verändert habe und auch durch die Sicherheitsbehörden in Afghanistan selbst in Form eines internen Schutzes nicht mehr gewährleistet werden könne.
Das OVG zog zur Beurteilung der aktuellen Lage den Bericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Juli 2017 hinzu. Daraus ergäben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass nunmehr landesweit von einer solchen ernsthaften individuellen Bedrohung jedes Rückkehrers in Afghanistan auszugehen sei. Zwar habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt seit Anfang 2016 deutlich verschlechtert. Allerdings lasse sich feststellen, dass die Bedrohungslage in den einzelnen Provinzen stark unterschiedlich sei. Das gelte für Angriffe auf administrative Einrichtungen, Sicherheitsorgane sowie westliche Staatsangehörige, Einrichtungen und Hilfsorganisationen ebenso wie für die Bedrohung der einheimischen Zivilbevölkerung.
Vergleichsweise ruhig im Westen und zentralen Hochland
In den ländlichen Gebieten forderten vor allem Kampfhandlungen am Boden und improvisierte Sprengsätze Opfer unter der Zivilbevölkerung. Dabei seien die höchsten Opferzahlen in der südlichen und in der östlichen Region zu verzeichnen. Demgegenüber stelle sich die Situation im Nordosten – bei einer Konzentration der Kampfhandlungen um Kunduz und den Kunduz-Baghlan-Korridor – und im Westen sowie in der zentralen Hochlandregion insgesamt gesehen als vergleichsweise ruhig dar.
Die städtische Bevölkerung insbesondere in Kabul werde vor allem durch Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen sowie Entführungen und Bedrohungen betroffen, teilten die Koblenzer Richter mit. Zwar weise die Opferzahl in der Provinz Kabul im ersten Halbjahr 2017 den höchsten absoluten Wert in Afghanistan auf. Gleichzeitig lebten in dieser Provinz aber mit 4,4 Millionen Menschen die meisten Einwohner. Die relative Zahl der zivilen Opfer bewege sich dort im landesweiten Durchschnitt. Weiterhin ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass oppositionelle Gruppen – wie die Taliban – weite Teile des Landes beherrschten.
Aktuelle Asylzahlen
Vor einer Woche hatte Deutschland acht abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben, nach offiziellen Angaben waren sie verurteilte Straftäter.
Die Bundesregierung hatte am Mittwoch die aktuellen Asylzahlen mitgeteilt. Im zweiten Quartal dieses Jahres sind in Deutschland 1.322 Menschen als asylberechtigt anerkannt worden, während 35.731 Flüchtlingsschutz und 28.823 subsidiären Schutz erhielten. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 V/VII des AufenthG wurde in 13.225 Fällen festgestellt. Die Gesamtschutzquote lag den Angaben der Bundesregierung zufolge bei 42,3 Prozent. Hauptstaatsangehörigkeiten waren Syrien mit insgesamt 25.043 Fällen vor Afghanistan mit 16.555 und dem Irak mit 11.847.
Tanja Podolski, OVG Koblenz zu Abschiebung nach Afghanistan: Nicht jeder ist bedroht . In: Legal Tribune Online, 20.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24621/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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