Wer als Patient auf ein Organ warten darf und wer es schließlich bekommt, gibt die Bundesärztekammer fast alleine vor. So wird dann einem Iraker, der nicht gut Deutsch spricht, und einer Frau, deren Mann den Ärzten eine unfreundliche E-Mail geschrieben hat, der Platz auf der Warteliste verwehrt. Es geht in der Transplantationsmedizin um Entscheidungen über Leben und Tod, die der Gesetzgeber treffen müsste, meint Wolfram Höfling.
LTO: Ende Juni wurde vor dem Verwaltungsgericht (VG) München über den Platz auf der Warteliste für ein Spenderorgan gestritten. Die Klägerin war von der Liste gestrichen worden, weil ihr Mann den Ärzten eine E-Mail geschrieben hatte, die diesen nicht gepasst hatte. Dadurch sei das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin zerstört worden, so die Mediziner. Eine Entscheidung in der Sache blieb aus, weil der Patientin mittlerweile in einem anderen Krankenhaus eine Niere transplantiert wurde. Wäre die Klage in der Sache begründet gewesen?
Höfling: Ja. Die Frau nur wegen einer vermeintlich unbotmäßigen E-Mail ihres Mannes als nicht transplantabel einzustufen, das wäre nicht zu halten gewesen. Das VG hat übrigens sehr lange gebraucht, um sich auch nur mit der Frage der Zulässigkeit zu beschäftigen. Während des Verfahrens war immer wieder zu spüren, dass die Richter den Fall am liebsten den Zivilgerichten zugeschoben hätten. Dann haben sie den Verwaltungsrechtsweg zwar doch für eröffnet erklärt, was in der Tat eine schwierige rechtliche Frage ist, die keiner so genau zu beantworten weiß, anschließend haben sie aber eine neue Hürde aufgestellt, indem sie das Feststellungsinteresse der Klägerin, die ja mittlerweile eine neue Niere hat, verneint haben.
LTO: Warum haben sich die Richter so gegen eine Entscheidung in der Sache gewehrt? Das hätte doch recht interessant werden können.
Höfling: Die ganze Transplantationsmedizin ist ein heikles Thema und steht im Moment durch den Strafprozess in Göttingen noch viel mehr im öffentlichen Fokus. Da möchten viele keinen weiteren Anlass für Kritik geben. Wenn in den vergangenen Jahren überhaupt Fälle vor Gericht gelandet sind, endeten die Verfahren in einem Vergleich. Dabei hat mittlerweile sogar das Bundesverfassungsgericht in einem Eilverfahren darauf hingewiesen, dass es da wohl tiefergreifende Probleme zu erörtern gibt.
"Compliance dürfen die Ärzte nicht willkürlich auslegen"
LTO: In vielen Fällen kommt es aber gar nicht zum Prozess?
Höfling: Ja, schon deswegen, weil die Betroffenen andere Dinge im Kopf haben, als vor Gericht zu streiten. Das war in dem Münchner Fall etwas anders, weil die Frau Mitglied der Deutschen Stiftung für Patientenschutz ist und von dieser in dem Verfahren unterstützt wird.
LTO: Das Transplantationszentrum hatte die Aufnahme der Frau auf die Warteliste abgelehnt, weil das "Vertrauensverhältnis" zwischen Patientin und Ärzten zerstört gewesen sei. Warum ist ein solches Vertrauensverhältnis Voraussetzung, um auf die Warteliste zu kommen? Wörtlich steht davon nicht einmal in den Transplantationsrichtlinien der Bundesärztekammer etwas, geschweige denn im Transplantationsgesetz (TPG), das die Richtlinien konkretisieren sollen.
Höfling: Die Ärzte nennen das in ihren Richtlinien "Compliance", darunter fällt auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Das kann in bestimmten Situationen natürlich schon wichtig sein, etwa im Rahmen der Nachbetreuung. Die Behandlung muss insgesamt erfolgversprechend sein. "Compliance" dürfen die Ärzte aber nicht willkürlich auslegen, wie es ihnen gerade passt.
Außerdem sollten die Transplantationsrichtlinien nur den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis in der Medizin feststellen. Compliance hat aber mit medizinwissenschaftlicher Erkenntnis nichts zu tun. Das heißt, die Bundesärztekammer ist eigentlich nicht dazu berufen, solche Festlegungen zu treffen. Dazu muss der Gesetzgeber nähere Vorgaben machen. Stattdessen regelt die sogenannte Selbstverwaltung das und zwar nahezu unter Ausschluss der Gerichte. Das führt zu einem System von organisierter Verantwortungslosigkeit, wie es ein Kollege formuliert hat, was dann wiederum Misstrauen der Bevölkerung zur Folge hat. Das ist ein Teufelskreis zulasten der Patienten.
2/2: "Gerechtigkeitsfragen, die nicht die Bundesärztekammer beantworten darf"
LTO: Was würden Sie vorschlagen? Wie könnte man das besser organisieren?
Höfling: Die Kriterien für die Entscheidung über Wartelistenplätze und die Verteilung von Spenderorganen müssen durch ein demokratisch legitimiertes Organ festgelegt werden, weil es dabei um Leben und Tod geht. Das ist die Bundesärztekammer mit Sicherheit nicht. Genauso wenig wie die Stiftung Eurotransplant, die als niederländische Stiftung privaten Rechts organisiert ist.
Der Gesetzgeber muss diese Kriterien festlegen, und zwar hinreichend deutlich. Lediglich gegenteilige Prinzipien festzulegen, wie das heute im TPG der Fall ist, wonach Organe zum einen nach Erfolgsaussicht, zum anderen aber nach Dringlichkeit zu vermitteln sind, das ist zu wenig.
LTO: Welche Kriterien könnte der Gesetzgeber festlegen?
Höfling: Gerechtigkeitsfragen müssten angegangen werden. Etwa: Soll berücksichtigt werden, wie lange jemand schon auf ein Organ wartet? Sollen auch Ausländer hier transplantiert werden können? Was ist, wenn jemand seine Leber durch Alkoholmissbrauch selbst kaputt gemacht hat? Kriegt er nur dann eine neue, wenn er dem Alkohol dauerhaft entsagt hat? Medizinisch ist ein Entzug für eine Transplantation nicht indiziert, das ist eher eine Art von Bestrafung. Solche Gerechtigkeitserwägungen darf die Bundesärztekammer nicht aus eigener Machtvollkommenheit festlegen. Darüber muss sich unsere Gesellschaft verständigen.
LTO: Von welchen Kriterien würden Sie die Entscheidung über Wartelistenplätze und Organvergabe abhängig machen?
Höfling: Vor allem von einer Gewichtung von Dringlichkeit und Erfolgsaussichten. Früher wurde zum Beispiel bei der Leberallokation mehr auf die Erfolgsaussichten abgestellt. Das heißt, die Überlebenschancen des Empfängers waren relevant. Das hieß auch, dass Patienten, die Organe sehr dringend brauchten, aber wegen ihrer Vorerkrankungen vielleicht nicht mehr so lange zu leben hatten, eher kein Organ erhielten. Das ist vor ein paar Jahren umgestellt worden. Die hochdringlichen Fälle nehmen jetzt die allermeisten Transplantate weg. Deshalb hat Deutschland im internationalen Vergleich inzwischen auch schlechte Ergebnisse, was die Überlebenszeit nach einer Transplantation betrifft.
Zunächst klingt es ja ganz einleuchtend, als erstes die Patienten zu behandeln, die es am dringendsten nötig haben. Aber wenn eine solche Knappheit an gespendeten Organen herrscht, dann müssen wir uns darüber verständigen, ob man nicht will, das möglichst viele Patienten möglichst lange überleben, was eine Entscheidung zulasten der Schwerkranken bedeuten würde. Auch das kann aber nicht die Bundesärztekammer festlegen. Da muss der Gesetzgeber Farbe bekennen. Verteilungsentscheidungen sind zugleich Todesurteile für die, die nicht profitieren. Die Knappheitsdiskussion des Gesundheitssystems, die man sonst mit immer mehr Rationalisierung oder etwas mehr Geld zu beantworten versucht, stößt hier an ihre Grenzen.
Man könnte auch über Reziprozität nachdenken – das heißt, wer selbst spendet, wird als Patient bevorzugt behandelt. Dabei müsste man natürlich ausschließen, dass Patienten, die nicht selbst spenden können, benachteiligt werden.
"Ministerium muss Richtlinien jetzt genehmigen – ein kleiner Fortschritt"
LTO: Warum wollen die Ärzte diese schwierigen Entscheidungen überhaupt im Alleingang treffen?
Höfling: Bei der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes hat sich der Gesetzgeber weitgehend darauf beschränkt, das vorhandene selbstregulative System normativ abzustützen. Es gab und gibt ein großes Eigeninteresse der Transplantationsmedizin, staatlichen Einfluss weitestgehend außen vor zu halten. Erst in den letzten eineinhalb Jahren zeichnet sich bei einem Teil der Ärzteschaft eine gewisse Nachdenklichkeit ab.
Es gibt mittlerweile einen kleinen Fortschritt, der wahrscheinlich dem Organspendeskandal geschuldet ist. Die Richtlinien der Bundesärztekammer müssen jetzt dem Gesundheitsministerium zur Genehmigung vorgelegt werden. Allerdings schaut sich das da wohl niemand so genau an. Mein Kollege Thomas Gutmann aus Münster hat zu Recht kritisiert, dass die Bundesärztekammer dort auch eine Kriegserklärung an Albanien hätte rein schreiben können, ohne, dass es jemandem aufgefallen wäre.
LTO: Im Grunde geht es um zwei verschiedene Entscheidungen: Erstens, kommt ein Patient überhaupt auf die Warteliste, zweitens, wer bekommt die Spenderorgane. Gelten für beide Fragen dieselben Kriterien?
Höfling: Im Moment wird das alles weitgehend über einen Kamm geschoren. Aber es wäre natürlich möglich, den Zugang zur Liste weit zu gestalten, die Verteilung der Organe dann etwas strenger.
LTO: Noch einmal zurück zum Rechtsschutz: Sie haben es bereits angesprochen, häufig werden Vergleiche geschlossen. So auch im Fall eines Irakers, der zunächst für Prozesskostenhilfe bis zum BVerfG gegangen ist, um sich dagegen wehren zu können, dass er wegen schlechter Deutschkenntnisse nicht auf die Warteliste gesetzt worden war. Auch damals begründeten die Ärzte ihre Weigerung mit der Transplantationsrichtlinie. Dort heißt es unter I.4, dass auch sprachliche Schwierigkeiten gegen eine Aufnahme auf die Warteliste sprechen können. Was müsste geändert werden, damit es tatsächlich mal zu einer gerichtlichen Überprüfung der Richtlinien kommt?
Höfling: Als erstes müsste man klarstellen, wohin der Rechtsweg überhaupt geht. Wenn es die öffentlich-rechtlichen Gerichte sind, müsste man klären, ob es die Verwaltungs- oder die Sozialgerichte sind. Es muss darüber hinaus die Möglichkeit geben, im Wege der Feststellungsklage überprüfen zu lassen, ob die Kriterien der Richtlinien der Bundesärztekammer akzeptabel sind.
LTO: Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. iur. Wolfram Höfling, M. A. ist Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Er ist außerdem Mitglied des Stiftungsrats der Deutschen Stiftung für Patientenschutz, die die Klage vor dem VG München unterstützt.
Das Interview führte Claudia Kornmeier.
Prof. Dr. Wolfram Höfling, M. A., Warten auf Herz und Niere: Die Macht der Bundesärztekammer . In: Legal Tribune Online, 16.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12573/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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