Nach zahlreichen Anläufen hat der BGH erstmals darüber verhandelt, ob Spieler bei nicht zugelassenen Online-Sportwetten ihre Verluste zurückfordern können. Ende Juli soll die lang ersehnte Entscheidung kommen.
Für den Kläger vor dem BGH geht es "nur" um 3.719,26 € nebst Zinsen und Anwaltskosten. Für die Online-Sportwetten-Industrie geht es um einige Millionen: Im Jahr 2020 wurden etwa 408,6 Millionen Euro im Online-Sportwettenmarkt verspielt. Der Zeitraum, in dem Online-Sportwetten ohne Konzession betrieben wurden, reicht allerdings von 2012 bis 2020. In der Summe geht es also um viele Milliarden. Diese Zahlen stellen die Bruttospielerträge dar.
In diesem Umfang könnte die Spielindustrie nach der noch immer ausstehenden Entscheidung eine Klagewelle erreichen. Der Beklagtenanwalt sprach von 10.000 anhängigen Verfahren.
Ob diese teilweise verjährt sind, hängt davon ab, ob nur bereicherungsrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden können oder auch deliktische Ansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB wegen Verstoß gegen ein Schutzgesetz. Dann stünde eine Verjährungsfrist von 10 Jahren ab Kenntnis der fehlenden Lizenzen im Raum.
Theoretisch hätte der BGH schon viel früher ein Grundsatzurteil fällen können. Es sind schon zahlreiche Fälle dieser Art an Amtsgerichten, Landgerichten und Oberlandesgerichten entschieden worden. Im Mai war bereits eine Entscheidung über Rückforderungsansprüche von Spieler:innen erwartet worden. Diese ist dann aber ausgeblieben, weil der beklagte Sportwettenanbieter seine Revision zurückgenommen hatte, wohl um eine höchstrichterliche Klärung der umstrittenen Thematik zu verhindern.
Legale Sportwetten waren nicht möglich
Nun kam es endlich zur mündlichen Verhandlung und zwar im Verfahren eines Spielers gegen den Sport-Wetten Anbieter tipico. Der Spieler forderte die Rückzahlung seiner Wettverluste. Sowohl das angerufene Amtsgericht als auch das Landgericht haben ihm seine Rückforderungsansprüche verwehrt.
Der rechtliche Hintergrund des Verfahrens ist im ersten Ansatz simpel: Nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen muss jemand eine gezahlte Summe zurückerstatten, wenn er diese durch Leistung eines anderen ohne Rechtsgrund erlangt hat (§ 812 Abs. 1 S. 1 Fall 1 BGB). Kein Rechtsgrund liegt unter anderem dann vor, wenn das betreffende Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Das Rechtsgeschäft ist dann nichtig, so § 134 BGB. Genau um so ein gesetzliches Verbot geht es hier: § 4 Abs. 1 und Abs. 4 des Glückspielstaatsvertrages (GlüStV) schreibt vor, dass Glücksspiele – also auch Online-Sportwetten – nur mit Erlaubnis der zuständigen Behörde ausgerichtet werden dürfen. Ein besonderes Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für Online-Glücksspiel enthält dann § 4 Abs. 4 GlüStV noch. Nur darauf geblickt scheint die Rechtslage klar: tipico verfügte über keine Erlaubnis – im Glückspielrecht Konzession genannt – und durfte somit keine Online-Wetten anbieten. Aufgrund dieses Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz müsste eigentlich klar sein, dass die Spieler ihr Geld zurückverlangen können.
So einfach ist die Lage und so absehbar auch die Entscheidung des Gerichts nicht. Denn: für den streitgegenständlichen Zeitraum 2013 bis 2018 war es unmöglich, eine wirksame deutsche Glücksspiellizenz zu erhalten. Das 2012 eingeführte Konzessionsverfahren war nach der sog. Ince-Entscheidung des EuGH (Urt. v. 4.2.2016, Rs. C-336/14) nämlich unionsrechtswidrig. Kernargument des EuGH war: Das Zulassungsverfahren arbeitete mit einer sog. Experimentierklausel. Diese sah vor, dass private Glückspielangebote zwar grundsätzlich verboten sind, aber vorübergehend 20 Lizenzen vergeben werden durften. Denn auch wenn die Experimentierklausel mehrere Anbieter ermögliche, handele sich um ein staatliches Monopol und es stehe kein transparentes und diskriminierungsfreies Verfahren zur Lizenzierung zur Verfügung. Der EuGH entschied darüber hinaus: Trotz der Illegalität des angebotenen Glücksspiels dürften Anbieter nicht strafrechtlich sanktioniert werden, weil die unklare Situation vom Staat selbst verursacht wurde. Eigentlich ist das unerlaubte Anbieten von Glücksspielen nach § 284 StGB nämlich strafbar.
Also hat tipico zwar unstreitig gegen das Verbotsgesetz des § 4 Abs. 1, 4 und 5 GlüStV verstoßen. Der einseitige Verstoß gegen ein Verbotsgesetz nach § 134 BGB führt jedoch nur zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts, wenn der Gesetzeszweck anders nicht zu erreichen ist und die rechtsgeschäftlich getroffene Vereinbarung nicht hingenommen werde dürfte. Die Vorinstanzen haben diese Ausnahme von § 134 BGB hier erfüllt gesehen. tipico hat zwar nie über eine deutsche Lizenz verfügt – nur über eine maltesische. Dass der Schutz des Spielers nicht anders erreicht werden könne, sei aber nicht dem Anbieter zur Last zu legen.
Die Beklagte hatte sich 2012 um eine solche bemüht und einen entsprechenden Antrag gestellt. tipico behauptet auch weiterhin, alle Voraussetzungen für die Konzessionserteilung damals erfüllt zu haben. Dazu gehört unter anderem, einen Höchsteinsatz von 1.000 Euro pro Monat für jeden Spieler einzuhalten. Mit diesem Argument stellt sich der Sportwetten-Anbieter nun auf den Standpunkt: Dass sie keine Erlaubnis hatten, sei ganz alleine die Schuld des Staates, weil die Durchführung des Konzessionsverfahren unionsrechtswidrig gewesen sei.
Verwaltungs-, Straf- oder Zivilrecht: Wer darf?
Dreh- und Angelpunkt des Streits ist vor diesem Hintergrund also: Ein einseitiger Verstoß gegen ein Verbotsgesetz führt nur dann zur Nichtigkeit, wenn der Zweck des Verbotsgesetzes – Spielerschutz – nicht anders erreicht werden kann. In diesem Fall kann der Verbotszweck nicht anders erreicht werden, weil ein aufsichtsbehördliches Vorgehen wegen unionsrechtswidrigem Verfahren unmöglich ist und der EuGH eine strafrechtliche Sanktionierung ausgeschlossen hat. Der Staat ist also selbst daran schuld, dass der von ihm intendierte Schutz des Spielers nicht erreicht werden kann. Darf sich diese Situation dann auf das Zivilrecht in Form der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts durchschlagen und somit auf dem Rücken der Sportwetten-Anbieter ausgetragen werden? Oder muss umgekehrt hingenommen werden, dass die Glücksspielanbieter sehenden Auges illegales Glücksspiel anbieten, weil sie wissen, dass ihnen keine Sanktionen drohen?
Diese Frage wurde von den Anwälten für die sonst gediegenen Verhältnisse im BGH-Verhandlungssaal hitzig debattiert: Auf Klägerseite wurde mehrfach § 134 BGB als die "letzte Bastion" des Spielerschutzes beschworen. In seinem ausführlichen Vortrag betonte BGH-Anwalt Norbert Trötter, dass Verbot des illegalen Glückspiels diene dem Spielerschutz (§ 1 GlüStV) und damit auch dem Schutz seines Vermögens: "Was ist denn die Spielsucht anderes als eine eklatante Vermögensgefährdung?" Wenn verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Sanktionierung unmöglich seien, folge daraus nicht, dass die zivilrechtliche "Sanktionierung" überflüssig werde?
Dem entgegnete der Beklagten-BGH-Anwalt Prof. Dr. Rohnke beinahe schon in einem feurigen Plädoyer: Diese Sicht sei nicht vereinbar mit der Einheit der Rechtsordnung. Nur weil nicht straf- und verwaltungsrechtlich gegen Glücksspielanbieter vorgegangen werden könnte, dürfe nicht das Zivilrecht dazu genutzt werden. Er differenzierte zwischen dem Verhältnis zwischen Glücksspielanbieter und Staat sowie Glücksspielanbieter und Spieler: "Es kann nicht sein, dass Spielerschutz dadurch ausgelöst wird, dass die Behörde rechtswidrig handelt."
Kleinere und größere Zwischenfälle
Mitten im Vortrag den Beklagtenanwalts ertönt der Feueralarm. Die Verhandlung wird unterbrochen und alle Beteiligten sowie das Publikum finden sich auf dem Hof des BGH wieder. Der zuvor verbissenen Stimmung tut das gut. Einige Verhandlungsteilnehmer machen Fotos von den Feuerwehrwagen – die ähnlich schnell da waren wie die Verhandlungsteilnehmer draußen im Hof – und aus der Klägerecke hört man: "Hoffentlich verbrennt nicht der Entscheidungsentwurf!“ Nach den Erläuterungen des Senats hegte die Klägerseite wohl schon Hoffnung.
Die Fehlalarm-Pause sollte sich als sinnvoll herausstellen. Denn die Verhandlung ist noch lange nicht vorbei. Zurück im Saal braucht der Beklagten-Anwalt nur wenige Sätze, um wieder mitten im Streitgespräch zu sein: Im Kern gehe es doch um die Frage, ob ein Verhalten, das die deutsche Gesetzgebung mitverursacht habe, sanktioniert werden dürfe. Und die Nichtigkeitserklärung durch Zivilgerichte sei eben auch eine staatliche Sanktion.
Ausnahmsweise gestattet der Vorsitzende Richter Koch dem Instanz-Anwalt Dr. Ronald Reichert von der Kanzlei Redeker-Sellner-Dahs das Wort zu ergreifen. Jedoch nicht ohne ihn darauf hinzuweisen: bitte kurz und ohne schriftlichen Sachvortrag zu wiederholen. Es folgte: Eine ausführliche Wiederholung des schriftlichen Sachvortrags. "Vielen Dank, dass Sie noch einmal ausgeführt haben, was Sie auch schon geschrieben haben. Wir lesen, was sie schreiben", beendet der Senatsvorsitzende den Anwaltsvortrag und fügt noch hinzu, er habe den drohenden Unterton nicht überhört.
Gemeint ist: Reichert hatte eindringlich betont, dass er eine Vorlage zum EuGH für unumgänglich hält. Und in Aussicht gestellt, dass eine Nichtvorlage noch ein prozessuales Nachspiel haben könne. Die Vorlagepflicht an den EuGH ist ein weiterer Knackpunkt im Verfahren: Die Klägerseite hält eine Vorlage nicht für erforderlich. Unionsrecht sei zwar berührt, aber die betroffenen Rechtsfrage habe der EuGH in seinem Ince-Urteil bereits entschieden.
Rückrunde in Luxemburg oder in Karlsruhe?
Doch der Senat ließ gleichwohl seine Tendenz erkennen, dem Kläger die Rückforderungsansprüche zuzugestehen. Das sei dann für Wettsüchtige wie ein Elfmeter in der Nachspielzeit, meint Claus Goldenstein, der in seiner Anwaltstätigkeit über 4.000 Mandanten bei der Rückforderung von Online-Spiel- und Wettverlusten unterstützt. "Mitten während der Fußball-EM droht nun fast allen namhaften Wettanbietern eine Klagewelle."
Allerdings betonte der Vorsitzende Koch auch, dass der Senat über die Vorlage an den EuGH noch einmal gründlich nachdenken wird. Doch galten diese Worte eventuell nur der Beruhigung der Beklagtenseite. In einem Hinweisbeschluss hatte der Erste Zivilsenat eine Vorlage an den EuGH nicht für erforderlich gehalten. Jedoch gestand der Vorsitzende am Donnerstag zu: Der aktuell anhängige Fall unterscheide sich von dem Fall, der dem Hinweisbeschluss zu Grunde lag.
Lässt der BGH nicht Luxemburg entschieden, planen nach LTO-Informationen Anwälte der Glückspielanbieter wohl eine Verfassungsbeschwerde, in der sie die Vorenthaltung des gesetzlichen Richters – nämlich des EuGH – nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG rügen wollen. Auch das Thema, ob Zivilgerichte dort sanktionieren dürfen, wo Straf- und Verwaltungsbehörden es nicht dürfen, würde dann noch einmal als verfassungsrechtliches Problem aufgerollt werden.
Der Verkündungstermin ist für den 25.7.2024 anberaumt.
Online-Sportwetten vor dem BGH: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54885 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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