Sigi Maurer steht im Scheinwerferlicht, weil sie Hassnachrichten eines Bierladenbesitzers öffentlich machte. Der erhob zunächst erfolgreich Privatanklage wegen übler Nachrede - doch der Prozess geht nun in die nächste Runde.
Der Erstrichter vernachlässige in seiner Beweiswürdigung, dass die obszöne Nachricht vom Laptop und Facebook-Account des Privatanklägers versendet wurde, und setzte "die Latte für die Erbringung des Wahrheitsbeweises geradezu unerreichbar hoch an", so das Oberlandesgericht (OLG) Wien (Entscheidung vom 12. 03. 2019, Az. 17 Bs 47/19i), das die erstinstanzliche Verurteilung behoben hat. Der Prozess wird nicht nur in Österreich weiterhin Aufmerksamkeit bekommen, sondern ist auch aus deutscher Sicht interessant. Es geht um den Wahrheitsbeweis in Strafverfahren wegen übler Nachrede – und um die fundamentale Frage, ob öffentlicher Raum tatsächlich einigen "Bullies" gehören soll.
Maurer ist in Österreich als ehemalige Nationalratsabgeordnete der Grünen und als (Netz-)Aktivistin bekannt. Und nun auch deshalb, weil sie sich weigerte, auf ihrem Arbeitsweg die Straßenseite zu wechseln, um Männern auszuweichen. Männern, die regelmäßig vor einem Craft Beer Shop standen und – wie das erstinstanzliche Gericht feststellte – "erst sehr spät Platz gemacht haben und dort generell Frauen musterten oder angafften".
Im Mai 2018 eskalierten die Ereignisse. Kurz nachdem Maurer das Geschäft passiert hat, erhält sie vom Facebook-Account des Craft Beer Shop-Inhabers eine Nachricht, in der sexualisierte Gewalthandlungen angedroht werden. Maurer wendet sich an die Wirtschaftskammer und erkundigt sich nach Möglichkeiten, gegen den Geschäftsinhaber vorzugehen. Da sei nichts zu machen, so die Auskunft.
Es zeigt sich, dass die österreichische Strafrechtsordnung für solche Fälle kaum effektive Rechtsschutzinstrumente zur Verfügung stellt. Wie auch in Deutschland ist Hate Speech hier kein Rechtsbegriff. Eine rechtliche Verfolgung von Hassnachrichten und -postings kommt nur in Teilbereichen in Betracht. Im Fall von Sigi Maurer versprach keiner dieser Teilbereiche überwältigenden Erfolg: Für eine gefährliche Drohung (§ 107 Österreichisches Strafgesetzbuch, Ö. StGB) erschien der Bezug auf Vergewaltigung zu unbestimmt, Cybermobbing (§ 107c Ö. StGB) stellt auf einen längerfristigen Zeitraum ab und die Ehrbeleidigung (115 Ö. StGB) erfordert eine qualifizierte Öffentlichkeit von mindestens zwei Personen.
Maurer macht die Posts öffentlich
Also geht Maurer an die Öffentlichkeit. Und sieht sich nun selbst mit dem Strafrecht konfrontiert. Der Bierladenbesitzer erhebt Privatanklage und erklärt, er habe die Nachricht gar nicht verfasst. Maurer wird nach § 111 Ö. StGB wegen übler Nachrede verurteilt.
Zentrales Moment war in diesem Prozessstadium der Wahrheitsbeweis: Kommt es zu einer Anklage wegen übler Nachrede, können Angeklagte zur Abwendung einer Verurteilung – ähnlich wie in Deutschland – beweisen, dass die aufgestellte Behauptung wahr ist (Wahrheitsbeweis) oder dass sich hinreichende Gründe ergeben, die Behauptung für wahr zu halten (Gutglaubensbeweis). Ist eine solche Behauptung als wahr erwiesen, hält auch der deutsche Bundesgerichtshof die Veröffentlichung von persönlichen Daten grundsätzlich für zulässig. Maurer musste in diesem Sinn beweisen, dass die Nachricht vom Bierladenbesitzer verfasst wurde. Dabei stand ihr allerdings nur der Wahrheitsbeweis (nicht aber der Gutglaubensbeweis) offen, denn sie hatte die Behauptung über die sozialen Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht (Qualifikation des § 111 Abs 2 Ö. StGB). Gemeinsam mit ihrer medienrechtlich erfahrenen Anwältin Maria Windhager trat Maurer diesen Wahrheitsbeweis an, scheiterte jedoch in der ersten Instanz.
Diese Entscheidung fiel auf Beweiswürdigungsebene. Das Ergebnis kam für viele überraschend. Für Unmut sorgte insbesondere, dass die Nachricht vom Laptop und vom Facebook-Account des Bierladenbesitzers abgesendet wurde, Maurer mit ihrem Vorbringen aber trotzdem nicht durchdrang. Es reichte aus, dass der Privatankläger vorbrachte, sein Laptop sei im Geschäft offen zugänglich gewesen und eine unbekannte dritte Person müsse die Nachricht verschickt haben – etwa ein Netzwerktechniker, der sich 'einen Spaß erlaubt' habe, was allerdings das Gericht nicht feststellen konnte. Tatsächlich beschrieb das Gericht den Privatankläger während der Hauptverhandlung als "patzig, ungehalten bis aggressiv", der verhandlungsleitende Richter brachte sogar Strafanzeige wegen Verdachts einer Falschaussage ein. Maurer hinterließ vor Gericht dagegen einen "durchwegs glaubwürdigen und sichtlich der wahrheitsgemäßen Aufklärung des Sachverhalts verpflichteten" Eindruck.
Entsprechend überraschend schien das Urteil. Unter dem Hashtag #metoo – verbreitete sich eine Solidaritätswelle. Binnen kurzer Zeit hatte Sigi Maurer für sich und andere Betroffene einen Rechtshilfefonds gegen Hass im Netz gegründet. Mehr als 160.000 Euro sind mittlerweile für Beratung und Prozessbegleitung zusammen, es wurden Forderungen nach Gesetzesänderungen laut.
Wer könnte es denn sonst gewesen sein?
Mittlerweile hat das OLG Wien das Urteil aufgehoben und das Verfahren zur neuerlichen Verhandlung an das Straflandesgericht Wien zurückverwiesen. Es habe insbesondere zu ermitteln, welche konkrete dritte Person die Nachricht verfasst haben könnte. Denn ohne dass deshalb eine starre Beweisregel herrsche, verkehre sich quasi die Beweislast. Die Inhaberschaft über Accounts und elektronische Endgeräte bilde ein starkes Indiz für Verfasserschaft. Ihm könne nur durch Darstellung und Beweis konkreter Umstände entgegen getreten werden.
Damit hat sich das OLG Wien nicht nur gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichts gestellt. Es hat auch eine rechtliche Aussage getroffen, die einer Beweislastumkehr im Wahrheits- (wohl auch Gutglaubensbeweis) zumindest nahe kommt: Stehen Inhaberschaft von Endgerät und Social Media Account einmal fest, braucht es konkrete Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass ausgehende Nachrichten von Dritten verfasst wurden.
In Deutschland dürfte bisher keine vergleichbare Entscheidung existieren. Judikatur im Feld von Hate Speech konzentriert sich auf Rassismus; die rechtlichen Schutzgrundlagen sind ähnlich fragmentarisch wie in Österreich. Ein wesentlicher Unterschied ist das am 1. Januar 2018 in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das kommerzielle Plattformen verpflichtet, offensichtlich strafbaren Inhalt binnen 24 Stunden zu löschen. Schon weil sich sein Anwendungsbereich nicht auf Individualkommunikation erstreckt, ist es für die vorliegende Fallkonstellation aber nicht relevant. Der Fall Sigi Maurer könnte sich, anders gesagt, auch in Deutschland ereignen.
Daran ändert auch der Fall Ariane Friedrich nichts: Er ist einer der wenigen aus dem Bereich Sexismus. Ganz ähnlich wie Sigi Maurer hatte die Hochspringerin im Jahr 2012 Namen und Adresse eines Mannes veröffentlicht, der ihr in Privatnachrichten ungefragt Fotos seiner Geschlechtsteile geschickt hatte. Im Unterschied zum Fall Sigi Maurer war er geständig und Ariane Friedrich musste keinen Wahrheitsbeweis antreten.
Wer wird im öffentlichen Raum geschützt?
Warum sollte uns das alles schließlich über die Grenzen des Einzelfalls und der Nationalstaaten hinaus beschäftigen? Weil das Urteil des OLG Wien nicht nur für Sigrid Maurer, sondern auch für die Idee des Rechtsstaats von Bedeutung ist. Er lebt von der Akzeptanz der Rechtssubjekte, von deren Rechtskenntnis, Anspruchswissen und dem Vertrauen, dass die Mobilisierung von Recht Probleme lösen kann.
Sigi Maurer war – im Verfahren unbestritten – willkürlichen Erniedrigungen und Drohungen ausgesetzt. Um dagegen vorzugehen, war von ihr hohe Rechtskenntnis gefordert. Angesichts des Prozessrisikos – etwa im Fall einer Privatanklage wegen Ehrbeleidigung – stand sie vor finanziellen Hürden, die sie nicht auf sich nehmen konnte oder wollte.
Als dann der Bierladenbesitzer gegen sie vorging, sah sie sich in den Worten des OLG Wien mit einer "lebensfremden" Beweiswürdigung, einer geradezu unerreichbar hohen Beweislatte konfrontiert. Das ist eine durchaus explosive Mischung. Umso wichtiger ist die deutliche Entscheidung des OLG Wien: Sie fordert Gerichte nicht nur dazu auf, genau zu sein und sich auf konkrete Lebenssachverhalte einzulassen. Sie scheint auch geneigt, öffentlichen Raum nicht den Bullies zu überlassen.
Dr. Petra Sußner ist Rechtswissenschaftlerin aus Wien. An der Humboldt Universität zu Berlin (Öffentliches Recht und Geschlechterstudien) ist sie im Rahmen der DFG-geförderten Forschungsgruppe Recht – Geschlecht – Kollektivität tätig. Für den Beitrag zur Recherche bedankt sich die Autorin herzlich bei Marie-Luise Hartwig.
OLG Wien: Fall Sigi Maurer muss neu verhandelt werden: . In: Legal Tribune Online, 02.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35147 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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