2/2: Rechtskraft oder Neustart
In diesem Stadium, wenn die Initiative bei den anderen Beteiligten liegt, muss ein Gericht rechtlich sehr sauber arbeiten, hier kollidieren mehrere Grundsätze, bei inhaftierten Angeklagten verstärkt: Es geht um die Schuld des Angeklagten, um lange Freiheitsstrafen. Das lässt das Verfahrensrecht aber nur zu, wenn man die Wahrheit kennt, so gut es eben geht, und wenn der Angeklagte alles zu seiner Verteidigung vorbringen durfte. Das Gericht muss also Fragen zulassen, auch wenn es die selbst nicht hat. Und über allem schwebt die Revision: Beschneidet das Gericht Rechte des Angeklagten, wird das spätere Urteil aufgehoben – und alles beginnt von vorn.
Das Gericht kann aber auch nicht einfach so lange verhandeln, bis die letzte redundante Frage und der letzte überflüssige Beweisantrag gestellt sind: Dauert das Verfahren zu lange, muss der Prozess eingestellt werden, wie es gerade erst in Koblenz passiert ist . Es gilt nämlich das "Beschleunigungsgebot": Die Angeklagten sind zwar tatverdächtig, aber ohne Verurteilung rechtlich unschuldig und erbringen, damit der Staat das Verfahren durchführen kann, mit der Untersuchungshaft ein "Sonderopfer" – das umso schwerer zu rechtfertigen ist, je länger Haft und Verfahren dauern.
Bedenkzeiten der Verteidigung
Im Zielkonflikt zwischen Wahrheit und Beschleunigung gewinnt im Zweifel aber die Wahrheit: Ein Gericht kann Anträge von Angeklagten und Nebenklägern ablehnen, aber nur unter engen Voraussetzungen. Ist etwa die Tatsache, die ein Angeklagter beweisen will, ohne Bedeutung, offenkundig gegeben oder schon erwiesen, dann muss das Gericht diesen Beweis nicht mehr erheben – aber das ist selbst am Amtsgericht die Ausnahme, um wieviel mehr also im NSU-Prozess? Einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann das Gericht ablehnen, wenn es selbst die erforderliche Sachkunde besitzt – aber sogar die besten Juristen müssen Wissenslücken einräumen, wenn die Welt der Paragraphen endet.
Und so kann das Gericht den Beteiligten zwar Fristen setzen für ihre Anträge – wie im NSU-Prozess geschehen. Es muss die Fristen aber umgehend verlängern, wenn sie vielleicht zu kurz waren - wie im NSU-Prozess geschehen. Und Bedenkzeiten von einem Monat, die sich die Verteidigung erbittet, um Fragen vorzubereiten, sind dann gar nicht mehr so lang, sondern angemessen; jedenfalls wurden sie gewährt. Und wenn die Verteidigung nach einem Monat Vorbereitung dann doch keine Fragen hat – nimmt das Gericht dies zur Kenntnis.
Eher Zulassung als Ablehnung
Das Gericht kann auch auf das Beschleunigungsgebot hinweisen; kommen aber Anträge der Verteidigung, muss es sich inhaltlich – natürlich – intensiv damit beschäftigen. Wo die Grenze zwischen Annahme und Ablehnung liegt, muss das Gericht in jedem einzelnen Fall genau beraten und festlegen. Im Zweifel aber wird ein Antrag eher zugelassen als abgelehnt: Lieber zu viel Sachaufklärung als zu wenig, das Urteil muss in der Revision "halten".
Und wenn schon erfahrene Landrichter jede Revisionsentscheidung gespannt erwarten, darf man im bereits jetzt historischen NSU-Prozess, bei einer Verfahrensdauer von über vier Jahren und Kosten von über 50 Millionen Euro, ohne Risiko vermuten: Ist das Urteil gesprochen, und heißt es, irgendwann einmal: "Der BGH hat soeben über die Revision entschieden", dürfte selbst bei maximal souveränen Oberlandesrichtern der Ruhepuls ein wenig nach oben gehen.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter und Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Starnberg.
Einfluss von Richtern auf die Verhandlung: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23356 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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