Obwohl der IS im Irak systematisch Jesid:innen physisch und seelisch vernichtet hat, wird geschlechtsbezogene Verfolgung bis heute nicht angeklagt. Ursache sind juristische Fehlkategorisierungen meinen Alexander Schwarz und Alexandra Lily Kather.
Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt führt seit April 2020 den weltweit ersten Prozess wegen Völkermordes an Jesid:innen. Der Angeklagte Taha A.-J. soll als Mitglied des sogenannten Islamischen Staates eine jesidische Frau und ihre fünfjährige Tochter gekauft, als Sklav:innen gehalten und verursacht haben, dass das Mädchen vor den Augen seiner Mutter verdurstet. Ihm werden deshalb Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Tötung, Folter, Versklavung, Freiheitsberaubung) und Kriegsverbrechen (Tötung, Folter) nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) vorgeworfen. Nicht angeklagt ist der Vorwurf der geschlechts- bzw. religionsbezogenen Verfolgung.
Dies könnte sich bald ändern. Mit einem jüngst gestellten Antrag will die Nebenklage im Namen der überlebenden Mutter erreichen, dass der angeklagte Sachverhalt rechtlich neu bewertet wird. Konkret sollen "geschlechts- und religionsbezogene Verfolgung" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 10 VStGB in die Anklage aufgenommen werden.
Der lange Arm des Weltrechts
Der Prozess gegen den Iraker Taha A.-J. ist gleich in mehrfacher Hinsicht historisch: er wird nicht nur zur Aufarbeitung eines der grausamsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte beitragen. Er ist auch Deutschlands erster internationaler Völkermordprozess nach dem VStGB, das seit 2002 in Kraft ist. Zudem wird in Frankfurt erstmals eine reine Auslandstat verhandelt: weder Täter noch Opfer sind deutsche Staatsangehörige, der Tatort liegt im Irak und der Angeklagte befand sich zum Zeitpunkt des Aufgreifens nicht einmal auf deutschem Boden. Erst auf Grundlage eines internationalen Haftbefehls des Bundesgerichtshofs konnte er in Griechenland festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert werden. Mehr Weltrecht geht nicht.
In der nordirakischen Region Shingal, 130 Kilometer westlich von Mossul, hatte der IS im August 2014 mit dem Völkermord und der Verfolgung der Jesid:innen begonnen. Innerhalb weniger Monate wurden Tausende getötet und fast 400.000 Jesid:innen aus ihrer Heimatregion vertrieben. Geschlechtsbezogene Gewalt war bei den Vernichtungskampagnen des IS kein Einzelfall, sondern wurde systematisch gegen jesidische Frauen und Mädchen und andere religiöse Minderheiten eingesetzt. Nach Berichten der Vereinten Nationen und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen wurden gezielt jesidische Frauen und Mädchen entführt, versklavt, vergewaltigt und zwangsverheiratet. Bis heute werden mehr als 3.000 jesidische Frauen und Kinder vom IS gefangen gehalten oder gelten als vermisst.
Der IS trennte Jesid:innen nach Geschlecht und Alter
Dafür, dass es sich bei den angeklagten Versklavungen im Frankfurter Verfahren nicht um Gelegenheitstaten, sondern um systematische Versklavungen von Personen des weiblichen Geschlechts handelte, spricht bereits die bei IS-Angriffen systematisch angeordnete Separierung von Männern und Frauen, einzig zu dem Zweck, die nach Geschlechtern getrennten Jesid:innen unterschiedlichen Verbrechen auszusetzen: Nach Informationen der UN-Untersuchungskommission für Syrien wurden ältere Frauen versklavt und zur Hausarbeit gezwungen. Jüngere Frauen und Mädchen wurden sexuell versklavt, vergewaltigt und zwangsverheiratet. Männer hingegen wurden gefoltert und getötet, während Jungen als Kindersoldaten für den IS kämpfen mussten.
Das bei den Überfällen auf jesidische Siedlungsgebiete stets gleiche Verhaltens- und Angriffsmuster weist auf eine organisierte Vorgehensweise hin. Dabei versuchte der IS den Einsatz geschlechtsbezogener Gewalt sogar religiös zu rechtfertigen: Anfang 2015 veröffentlichte dessen "Abteilung für Forschung und Fatwa" eine Art Rechtsgutachten, in dem die Sklavenhaltung von nichtmuslimischen Frauen explizit erlaubt wurde.
Geschlechtsbezogene Verfolgung bislang nicht angeklagt
Die geschlechtsbezogene Motivlage der Täter wird auch durch die Beweisaufnahme im Frankfurter Verfahren gestützt. So gaben Sachverständige und Zeug:innen im Laufe des Prozesses immer mehr Hinweise darauf, dass Versklavungen unter dem Islamischen Staat nicht beide Geschlechter betrafen, sondern exklusiv gegen jesidische Frauen und Mädchen gerichtet waren, die in der strikt patriarchalisch geprägten IS-Ideologie tiefgreifend diskriminiert werden. Darüber hinaus bestehen zahlreiche Anhaltspunkte, dass die Diskriminierungen mehrdimensional in Erscheinung traten und der Angeklagte die beiden Jesid:innen aus Gründen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgte. Nach Aussage des Sachverständigen Guido Steinberg betrachten IS-Anhänger die Jesid:innen als "Teufelsanbeter", die nach der dschihadistisch-salafistischen Gesellschaftsordnung auf niedrigster Stufe stehen und entweder zwangskonvertiert oder vernichtet werden müssten.
Und die zuständige Bundesanwaltschaft? Die Nichtberücksichtigung der geschlechts- und religionsbezogenen Verfolgungsgründe in der Anklage nährt Zweifel, dass deren Bedeutung und Stellung in den bisherigen Ermittlungen ausreichend beachtet wurden. Dadurch wird ein wichtiges Element der im Fall angelegten Unrechtserfahrungen der Betroffenen außer Acht gelassen. Es ist jedoch zu hoffen, dass sich die bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen durchaus engagierte Bundesanwaltschaft dem Antrag nicht entgegenstellt, sondern in der Sache übereinstimmt, wie sie es zuletzt im Koblenzer Al Khatib-Verfahren zum Ausdruck brachte. In dem weltweit ersten Verfahren wegen syrischer Staatsfolter vor dem OLG Koblenz hatte die Nebenklage ebenfalls Nachbesserungsbedarf gesehen und im November beantragt, die dem Angeklagten vorgeworfenen Fälle sexualisierter Gewalt als Teil eines ausgedehnten systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung anzuklagen (gem. § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB) und nicht lediglich als Vergewaltigung gem. § 177 StGB a.F. Dass die Bundesanwaltschaft mit dem Antrag weitgehend übereinstimmte ist erfreulich und zeigt ihre Bereitschaft, frühere Versäumnisse im Umgang mit sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt zu beheben. Für die juristische Aufarbeitung geschlechtsbezogener Gewalt ebenfalls vielversprechend ist die Ende Dezember erwirkte Erweiterung des Haftbefehls gegen einen mutmaßlichen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes, welchem nun auch die Beraubung der Fortpflanzungsfähigkeit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gem. § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB vorgeworfen wird.
Anklage zur Aufarbeitung intersektionaler Verbrechen
Folgt der Senat dem Antrag der Nebenklage, wären zwei entscheidende Weichen gestellt: Erstens würde das Verfahren der überlebenden Mutter eine juristisch vollständige Aufarbeitung der an ihr begangenen Verbrechen ermöglichen, welche tausende jesidische Frauen und Mädchen in ähnlicher Weise durchlebt und teilweise nicht überlebt haben. Zweitens würde durch eine kumulative Anklage des Völkermords und der Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit die intersektionale Dimension der Taten berücksichtigt werden. Denn die Erfahrungen der Jesid:innen illustrieren, dass Verfolgung regelmäßig nicht nur gegen Opfer als Repräsentanten eines identitätsstiftenden Merkmals in Erscheinung tritt, sondern zumeist aufgrund mehrerer Diskriminierungsgründe, wie Religion, Ethnizität oder Geschlecht, die eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen.
Dabei wäre der Verfolgungstatbestand sogar "leichter" zu beweisen als der des Genozids, weil er subjektiv nicht die beabsichtigte Zerstörung der Gruppe "als solche" voraussetzt, sondern bereits das Angreifen einer Person wegen ihrer Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit den (subjektiven) Tatbestand erfüllt. Insoweit dürfte der Antrag der Nebenklage in Frankfurt dem Gericht beweisrechtlich in die Hände spielen: Für den Fall, dass die Anklage wegen Völkermordes an der nur schwer beweisbaren Zerstörungsabsicht scheitert, könnte das gruppenbezogene Kollektivunrecht an den jesidischen Frauen und Mädchen zumindest über den Verfolgungstatbestand erfasst werden. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis ist der im Jahr 2002 mit dem VStGB eingeführte Tatbestand bisher noch kein einziges Mal zur Anwendung gekommen.
Sexualisierte Gewalt ≠ geschlechtsbezogene Gewalt
Eine der Ursachen für eine bis heute anhaltende Vernachlässigung geschlechtsbezogener Verfolgungshandlungen sind juristische Fehlkategorisierungen. So führt die fehlende Unterscheidung zwischen sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt häufig zu der Annahme, dass in Fällen, in welchen keine sexualisierte Gewalthandlung am Körper des Opfers begangen wurde, auch keine geschlechtsbezogene Verfolgung vorliegen könne. Das ist ebenso offenkundig falsch wie fatal. Denn obwohl sich sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalttaten häufig überschneiden, weisen die Begriffe rechtlich auf einen wichtigen Unterschied hin: Sexualisierte Gewalt gilt für die Umschreibung von Völkerstraftaten, welche als verbindendes Element einen Sexualbezug aufweisen, wie etwa Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei oder Zwangsprostitution. Hier steht der Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts im Vordergrund. Das Verbrechen der geschlechtsbezogenen Verfolgung geht hingegen weiter und umfasst schwere Menschenrechtsverletzungen, die aufgrund des biologischen oder sozialen Geschlechtes der Betroffenen begangen werden, wie etwa im Falle von Zwangsheiraten, Folter oder der Versklavung von Frauen und Mädchen. Dabei muss es nicht zu Gewalt in sexualisierter Form kommen, vielmehr geht es um Taten aufgrund von diskriminierenden Geschlechter- und Rollenvorstellungen.
Wie fatal eine solche Fehlkategorisierung sein kann, zeigt das Beispiel des Frankfurter Verfahrens. So schließt die in Frankfurt angeklagte Versklavung der beiden jesidischen Frauen zwar keine unmittelbaren sexuellen Handlungen mit ein, der Angeklagte betrachtete die Frau und ihre Tochter aber offenbar als sein "Eigentum" und übte so männlich begründete Herrschaftsgewalt über die Frauen aus. Die geschlechtshierarchische Dimension dieser Taten dürfte unverkennbar sein.
Etappe auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht
Durch das Versäumnis, die geschlechtliche Dimension der Taten strafrechtlich zu erfassen, besteht das Risiko einer unvollständigen Strafverfolgung, da die Anklage lediglich eine Auswahl und nicht das volle Ausmaß der Verbrechen widerspiegelt, die der Angeklagte begangen haben soll. Um jedoch langfristig einer Außerachtlassung von geschlechtsbezogener Gewalt entgegenzuwirken, müssen differenzierte Ermittlungen erfolgen, die zu einer möglichst präzisen Einordnung der erlittenen und oft intersektionalen Unrechtserfahrungen verhelfen. Die Art und Weise, wie die deutsche Justiz mit den IS-Verbrechen umgeht, ist insoweit als wichtige Etappe auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht zu sehen.
Dr. Alexander Schwarz ist Akademischer Assistent am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht der Universität Leipzig. Gemeinsam mit der Koordinationsgruppe Völkerstrafrecht von Amnesty International beobachtet er den Prozess vor dem OLG Frankfurt.
Alexandra Lily Kather ist Beraterin (Consultant) im Bereich Völkerstrafrecht. Der Fokus ihrer Arbeit liegt in der strategischen Ermittlung und Verfolgung sexualisierter Gewalt und geschlechtsspezifischer Völkerstraftaten. Als Visting Fellow beim Center for Fundamental Rights der Hertie School of Governance in Berlin und beim Unit for Global Justice der Goldsmiths University London forscht sie zur Anwendung von Intersektionalität im Völkerstrafrecht.
IS-Prozess am OLG Frankfurt/Main: . In: Legal Tribune Online, 13.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43968 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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