Strafermittler dürfen nur bei erheblichen Straftaten Fahndungsfotos von Verdächtigen veröffentlichen. Ob das etwa bereits bei kleineren Ladendiebstählen der Fall ist, ist fragwürdig – die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein.
Wenn Unbekannte in Wohnungen einbrechen, Straßenbahnfahrgäste ausrauben oder bei Fußballspielen randalieren, werden sie manchmal von Überwachungskameras aufgenommen. Eine große Hilfe für die Ermittler: Kommen sie bei der Identifizierung der Tatverdächtigen nicht weiter, stellen sie die Überwachungsfotos mit richterlicher Genehmigung ins Internet und bitten zudem die Medien um Veröffentlichung - kürzlich zum Beispiel nach Ausschreitungen am Rande eines Fußballspiels in Frankfurt am Main. Dank solcher Öffentlichkeitsfahndungen (ÖF) konnten schon unzählige Taten aufgeklärt werden - nicht nur wegen Zeugenhinweisen, sondern auch, weil sich Tatverdächtige selbst stellten.
Aber dieses Vorgehen durch Polizei und Staatsanwaltschaft unterliegt strengen Voraussetzungen: Laut § 131b Strafprozessordnung (StPO) muss eine "Straftat von erheblicher Bedeutung" vorliegen, deren Aufklärung "auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre". Das Bundesverfassungsgericht hält eine Straftat dann für erheblich, "wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen" (Beschluss vom 24.7.2013, Az. 2 BvR 298/12). Das Bundeskriminalamt erwähnt als Beispiele "Mord, terroristische Anschläge, sexueller Missbrauch oder Raub".
Zusätzlich muss bei der ÖF auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt werden. Darauf legte der Bundestag in den Jahren 1999/2000 großen Wert, als er detaillierte Regelungen für ÖF in der StPO verankerte. Der Rechtsausschuss schrieb damals in der Begründung zu seiner Beschlussempfehlung: "Angesichts der Eingriffsintensität und Breitenwirkung einer Öffentlichkeitsfahndung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel besonders zu beachten. Es ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, welches Fahndungsmittel im Hinblick auf die mit ihm verbundene öffentliche Wirkung angemessen ist." (Drs. 14/2595).
Auch die bundesweiten Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) betonen in der Anlage B den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: "In jedem Einzelfall bedarf es daher einer sorgfältigen Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung einerseits und den schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten und anderer Betroffener andererseits."
Fotofahndung bereits nach Einlösung von falschen Rezepten
Doch LTO-Recherchen werfen die Frage auf, ob diese Vorgaben immer beachtet werden. Die Strafverfolger veröffentlichen ihre fotogestützten Fahndungsaufrufe auf ihren Homepages, als Pressemitteilungen auf presseportal.de und in Netzwerken wie Facebook. Neben einzelnen Kapitalverbrechen und Gewalttaten geht es dabei oft um Einbrüche (auch ohne Beute), Geldwäsche, Kontoeröffnung mit falschem Ausweis, Laden- oder Taschendiebstähle. Der Kreispolizeibehörde Unna reichte es 2024 als Fahndungsanlass schon, dass ein Unbekannter in einer Apotheke versucht hatte, ein gefälschtes Rezept einzulösen. Die Polizei Westhessen fahndete 2020 nach einem Gaffer, der die Opfer eines schweren Busunfalls in Wiesbaden gefilmt und das Video im Internet veröffentlicht haben soll, statt zu helfen. Daraufhin stellte er sich.
Auffällig oft stehen auf presseportal.de polizeiliche Fahndungsfotos aus Nordrhein-Westfalen und dort aus den Bezirken der Staatsanwaltschaften Essen und Hagen. Für die richterlichen Genehmigungen sind die Amtsgerichte der beiden Städte zuständig. LTO fragte bei diesen vier Behörden nach, ob denn in jedem Fall erhebliche Straftäten vorlägen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werde. Die Antworten lassen sich so zusammenfassen, wie es der Hagener Gerichtssprecher formulierte: "Jeder Einzelfall wird hier unter Anwendung der gesetzlichen Regelungen und nach Prüfung der Verhältnismäßigkeit von den dafür zuständigen Kolleginnen und Kollegen entschieden."
Um das überprüfen zu können, bat LTO um die Zusendung von fünf besonders strittig erscheinenden Gerichtsbeschlüssen. Erst nach hinhaltendem Widerstand mit wechselnden organisatorischen oder juristischen Begründungen übermittelten die Essener und Hagener Justizbehörden schließlich die Dateien.
Begründung der Verhältnismäßigkeit in einem Satz
Die höchstens anderthalbseitigen Beschlüsse postulieren ohne genauere Begründung, dass es hier jeweils um erhebliche Straftaten gehe und dass sie sich anders nur schwer aufklären ließen. In einem Fall wurden Rasierklingen für 195,65 Euro aus einer mit Hakenschloss gesicherten Drogeriemarkt-Vitrine entwendet. Ein anderer Ladendieb hatte fünf Parfümflaschen im Wert von insgesamt 49,95 Euro gestohlen und auf der Flucht einen Mann vor die Brust gestoßen. Einmal versuchte ein Unbekannter, mit einem fremden Reisepass ein Konto zu eröffnen. Auch zweimaliges unbezahltes Tanken mit einem Auto ohne Nummernschild wurde als erhebliche Straftat eingestuft, ebenso der Diebstahl eines fremden Kfz-Kennzeichens, mit dem der Täter anschließend einen "Geschwindigkeitsverstoß" beging.
Mit nur jeweils einem Satz bejahen die Gerichtsbeschlüsse die Verhältnismäßigkeit der Mittel - und begründen sie meist mit der zu erwartenden Strafe. Eine Abwägung mit den Folgen einer Fotoveröffentlichung für die Verdächtigen und ihr Umfeld findet in den vorliegenden Beschlüssen nicht statt.
Ist das alles noch vereinbar mit den strengen Vorschriften für ÖF, oder müssten hier vielleicht die vorgesetzten Behörden eingreifen? Die drei Generalstaatsanwaltschaften in NRW wollen auf LTO-Anfrage keine Bewertung vornehmen und verweisen an die einzelnen Staatsanwaltschaften. Auch die Landesregierung hält sich auf Anfrage bedeckt: Das für die Polizei zuständige Innenministerium verweist ans Justizministerium. Dessen Pressestelle findet, dass "eine rechtswidrige Öffentlichkeitsfahndung durch den staatsanwaltschaftlichen Geschäftsbereich des Landes, soweit ersichtlich, nicht zu besorgen ist". Weitere Bewertungen will der Sprecher nicht abgeben, denn die Staatsanwaltschaften seien inhaltlich unabhängig. Ihnen und nicht dem Ministerium "obliegt die Entscheidungshoheit über die Ermittlungen". Und für Gerichtsentscheidungen gelte der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.
Datenschützer sehen Reformbedarf
Bleiben noch die Datenschützer. Schon 2014 hatte die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder die Nutzung sozialer Netzwerke für ÖF als "sehr problematisch" bezeichnet, unter anderem, weil im Internet verbreitete Daten sich kaum oder gar nicht mehr löschen ließen.
Zu den konkreten Fällen in NRW möchte sich die Landesbeauftragte für Datenschutz auf LTO-Anfrage nicht äußern, da hier jeweils Amtsgerichtsbeschlüsse existierten, die nicht der Datenschutzkontrolle unterlägen. Generell verweist der Behördensprecher aber darauf, dass Delikte wie Ladendiebstahl oder kleinere Betrugsdelikte "eher nicht als erhebliche Straftaten eingestuft werden können". Dennoch sei dies im Einzelfall nicht ausgeschlossen. Hier spielten auch Aspekte wie der Wert des Diebesguts, eine Serientäterschaft oder Bandenzugehörigkeit eine Rolle. "In besonderem Maße zu prüfen" sei die Verhältnismäßigkeit. Dabei seien auch die Risiken für Unschuldige zu berücksichtigen. "Soweit wir das aus unseren bisherigen Erfahrungen bei Kontrollen und Beschwerdebearbeitungen beurteilen können, werden die genannten Aspekte auch überwiegend in die Betrachtung miteinbezogen."
Der Datenschutzbeauftragte des Landes Bremen wünscht sich vom Gesetzgeber, dass er "die Befugnisnormen stärker konkretisiert". Denn die Voraussetzung, dass eine Straftat "von erheblicher Bedeutung" vorliegen müsse, sei zu unbestimmt, kritisiert ein Behördensprecher auf LTO-Anfrage. In der jetzigen Form sei immer eine Einzelfallabwägung nötig. Ein Wohnungseinbruch auch ohne Beute könne eine ÖF rechtfertigen, weil durch das Eindringen in die Privatsphäre das Sicherheitsgefühl und der Rechtsfrieden beeinträchtigt würden. "Letztlich kommt es immer auf eine Abwägung des staatlichen Verfolgungsinteresses mit den Rechten der betroffenen Personen an." Keinesfalls dürften Fahndungsmaßnahmen den Eindruck erwecken, dass die Schuld der betroffenen Person bereits feststehe.
Falls Betroffene oder Nichtbetroffene eine ÖF für rechtswidrig halten, können sie sich laut dem Bremer Datenschützer form- und fristlos beschweren. Er könnte dann ein "aufsichtsbehördliches Verfahren" gegen Polizei und/oder Staatsanwaltschaft einleiten. Sollte sich eine ÖF dabei als datenschutzwidrig erweisen, könnte die Behörde sie beanstanden. "Auch Anordnungen sowie ein Aussprechen von Warnungen hinsichtlich künftiger Maßnahmen kommen in Betracht." Gegen die beteiligten Gerichte dürfe der Datenschützer aber nicht vorgehen. Insofern gebe es für ihn nur eingeschränkte Überprüfungsmöglichkeiten.
RAV kritisiert Ausweitung auf weniger erhebliche Taten
Und was sagen Strafverteidiger zur Praxis der ÖF? LTO hat den Deutschen Anwaltverein, den Verein Deutsche Strafverteidiger und den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) um Einschätzungen gebeten. Trotz wiederholter Nachfragen schickte nur der linksliberale RAV eine zitierbare Stellungnahme, verfasst vom Bremer Strafverteidiger und Honorarprofessor Helmut Pollähne. Er kritisiert, "dass die ÖF auf immer mehr Deliktbereiche ausgeweitet wurde, die kaum noch als Straftaten‚ von erheblicher Bedeutung‘ (§ 131b StPO) gewertet werden können".
Wohnungseinbrüche, auch ohne Beute, sieht der RAV-Vertreter durchaus als erhebliche Straftaten, nicht aber Einbrüche in Dienst- oder Geschäftsräume, die vom Strafrecht nicht so gut geschützt würden wie Wohnungen.
Bei Betrug würde der RAV-Vertreter auf die Schadenshöhe und die Position des Opfers abstellen. Tank- und Rezeptbetrug seien deshalb kein ÖF-Grund, aber bei Straftaten gegen ältere Menschen "dürfte dies anders zu beurteilen sein". Taschendiebstähle können aus Pollähnes Sicht nur ausnahmsweise erheblich sein. Dabei dürfe nicht darauf abgestellt werden, dass erbeutete Girokarten zum Geldabheben genutzt werden könnten. Denn § 131b StPO diene der "Aufklärungshilfe", nicht der Gefahrenabwehr.
Gestohlene Kfz-Kennzeichen rechtfertigen für Pollähne auf keinen Fall eine ÖF. Ein Ladendiebstahl dagegen könnte durch einen Stoß gegen einen Verfolger zum räuberischen Diebstahl und damit zum erheblichen Delikt werden.
Überhaupt wird aus Sicht des RAV-Anwalts oft nicht bedacht, dass auch bei erheblichen Straftaten zusätzlich immer die Verhältnismäßigkeit zu prüfen sei. Dabei auf das zu erwartende Strafmaß abzustellen, "entbehrt jedweder Tatsachengrundlage". Die Strafen seien nicht vorhersehbar, und meist würden nur Geldstrafen verhängt.
Den Amtsgerichten, die die ÖF auf Antrag der Ermittler beschließen, wirft Pollähne vor, "Meister im Ausfertigen und Durchwinken" zu sein, nach der Methode "copy & paste". "Eine wirksame Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben ist nicht gewährleistet".
"Das Problem ist und bleibt die zu offene Kategorie der 'erheblichen Bedeutung'", meint der Bremer Strafrechtler. Ähnlich wie der örtliche Datenschutzbeauftragte würde er es deshalb begrüßen, wenn der Gesetzgeber für die ÖF einen "Deliktskatalog" beschließen würde.
Solchen Reformbedarf sieht auch die Juristin Joanna Melz. In ihrer Doktorarbeit "Öffentlichkeitsfahndung im Internet. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Praxis" (2020/21) forderte sie als ÖF-Voraussetzung nicht nur einen Straftatenkatalog, sondern auch das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts. Bisher, so Melz, "lässt sich, wenn auch nicht in der überwiegenden Anzahl der Fälle, vor allem im unteren Bereich der mittleren Kriminalität bei alltäglichen Straftaten, eine eher großzügige Auslegung im Sinne einer ‚Straftat von etwas mehr als unerheblicher Bedeutung‘ feststellen". Und das trotz der "Gefahr einer dauerhaften Brandmarkung" der Tatverdächtigen. Oder in Pollähnes Worten: einer Vorverurteilung am "Pranger".
Finder eines Portemonnaies: Auch völlig Unschuldige betroffen
Aber auch völlig Unschuldige können irrtümlich in Verdacht geraten. Die Magdeburger Polizei entschuldigte sich kürzlich für die Fahndung nach einem Mann, der in einem Supermarkt ein liegengelassenes Portemonnaie mitgenommen hatte. In Wirklichkeit zeigte das Überwachungsfoto keinen Dieb, sondern den ehrlichen Finder. Verwechselungsgefahr besteht auch, wenn Verdächtigte nur unscharf oder gar als Phantombild zu sehen sind.
Ein ganz anderes Problem: Oft vergehen nach einer Straftat viele Wochen oder Monate, bis vorhandene Überwachungsfotos tatsächlich veröffentlicht werden. Warum das oftmals nicht früher geschieht, begründet das BKA auf seiner Internetseite so: Vor einer ÖF müssen die Ermittler prüfen, ob es Maßnahmen gibt, "die weniger in die Rechte der Betroffenen eingreifen". Zum Beispiel werten sie zunächst Spuren vom Tatort aus, befragen Zeugen oder suchen in ihren Informationssystemen nach den Flüchtigen.
Und das kann dauern. In Bremen gingen nach einer Gewalttat vom Januar 2023 sogar zwei Jahre ins Land, bis jetzt mit Fotos nach den mutmaßlichen Tätern gefahndet wurde. Nach Informationen des Weser-Kuriers lag diese extreme Verzögerung daran, dass der Fall 14 Monate überhaupt nicht bearbeitet wurde - wegen Arbeitsüberlastung des zuständigen Polizeibeamten. Erstaunlicherweise führte die ÖF trotzdem zum Erfolg: Innerhalb weniger Tage konnten alle acht Tatverdächtigen identifiziert werden.
Verhältnismäßigkeit bei Öffentlichkeitsfahndungen: . In: Legal Tribune Online, 19.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56617 (abgerufen am: 17.03.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag