NGOs setzen zunehmend auf OECD-Verfahren, um Konzernhandeln anzuprangern. Unternehmen stehen vor der Frage: Nehmen sie daran teil oder nicht? Beides birgt erhebliche Risiken, analysieren Boris Kasolowsky und Leane Meyer.
Als im Januar 2019 der Brumadinho-Damm in Brasilien brach und eine giftige Schlammlawine auslöste, zog dies den Tod von über 200 Menschen und enorme Umweltschäden nach sich. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wandte sich anschließend an die sogenannte Nationale Kontaktstelle der OECD in Deutschland und warf dem Zertifizierungsunternehmen TÜV Süd einen Verstoß gegen die Leitsätze für multinationale Unternehmen vor. Dieses Vorgehen ist ein Beispiel dafür, wie NGOs und andere interessierte Akteure heute bei Themen wie Menschenrechten, Umweltschäden oder Beschäftigungspraktiken direkt Beschwerdeverfahren initiieren können.
Die OECD-Leitsätze sind ein Verhaltenskodex für internationale Konzerne und decken ein breites Spektrum von Empfehlungen für verantwortliches Unternehmenshandeln ab. Die Nationalen Kontaktstellen bieten bei Beschwerden über mutmaßliche Verstöße gegen die OECD-Leitsätze die Durchführung von Mediationsverfahren an.
In den letzten Jahren haben diese Beschwerdeverfahren stetig an Bedeutung gewonnen. Wurden 2000 bis 2009 jährlich im Durchschnitt 17 neue Beschwerden vor den Nationalen Kontaktstellen erhoben, waren es in der darauffolgenden Dekade doppelt so viele. In den Jahren 2020 bis 2023 wurden jährlich im Schnitt sogar mehr als 50 Beschwerden eingereicht, Tendenz weiter steigend.
Des Einen Vorteil ist des Anderen Risiko
Weil diese Beschwerden von jedermann kostenfrei erhoben werden können, sind sie bei Aktivisten besonders beliebt. Diese setzen internationale Verfahren wie den OECD-Beschwerdemechanismus gezielt als Mittel für "Interventionen" gegen multinationale Konzerne ein, wie es eine bekannte europäische NGO beschreibt. Unter den Verfahren vor der deutschen Kontaktstelle befanden sich in den vergangenen Jahren beispielsweise Beschwerden des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte u.a. gegen die Bayer AG, der Gesellschaft für bedrohte Völker gegen die TÜV Süd AG oder der Kampagne für Saubere Kleidung u.a. gegen die Adidas AG.
Für die betroffenen Unternehmen gehen mit solchen Beschwerden erhebliche Reputationsrisiken einher. Durch die Verpflichtung der Teilnehmerstaaten der OECD-Leitsätze, zur Abwicklung der Beschwerdefälle Nationale Kontaktstellen einzurichten, wird ein effektiver Durchsetzungsmechanismus für die ansonsten rechtlich unverbindlichen Leitsätze geschaffen. Begründet wird diese Effektivität insbesondere durch die Prangerwirkung, die ein Beschwerdefall in der Öffentlichkeit entfaltet. Denn OECD-Verfahren sind grundsätzlich transparent zu führen und werden durch einen frei einsehbaren Abschlussbericht beendet.
Hinzu treten Gefahren, die auf den ersten Blick nicht sofort ersichtlich sind und deswegen leicht unterschätzt werden: mögliche negative Auswirkungen auf gerichtliche Folgeprozesse. Denn OECD-Verfahren sind oft nur ein Zwischenziel zur Vorbereitung oder Unterstützung eines staatlichen Gerichtsverfahrens. Auf diese Weise können Beschwerdeführer eine erste Einschätzung ihres Falles erhalten und sich Informationen zur Erleichterung der Beweisführung im Folgeprozess verschaffen. Daher kann sich ein allzu sorgloser Umgang mit Zugeständnissen oder der Preisgabe von Informationen später als Fallstrick erweisen.
Eine kostenlose Alternative zu staatlichen Gerichtsverfahren
Anschaulich macht die Risiken von OECD-Verfahren die Beschwerde der NGO Gesellschaft für bedrohte Völker gegen die TÜV Süd. Die NGO initiierte das OECD-Verfahren Ende 2020 wegen des Dammunglücks im brasilianischen Brumadinho bei der deutschen Kontaktstelle. Die Hürden für die Geltendmachung solcher Beschwerden sind niedrig. Es reicht aus, wenn die NGO (irgendein) berechtigtes Interesse hat, die vermeintlichen Verstöße zu rügen. Und das gesamte Beschwerdeverfahren ist kostenfrei.
In dem Brumadinho-Fall warf die NGO dem TÜV Süd die Verletzung der OECD-Leitsätze zu Menschenrechts- und Umweltstandards vor. Über die Beschwerde berichtete die Gesellschaft für bedrohte Völker kurz darauf in ihrer Pressemitteilung "Nachhaltig verseucht, ohne Perspektive". Dort betonte sie die drastischen Folgen des Dammbruchs und des zurückgebliebenen giftigen Schlamms für die indigene Bevölkerung. Zudem prangerte sie an, dass TÜV Süd seine Verantwortung zurückweise, obwohl es "den maroden Damm erst wenige Wochen vor der Katastrophe als sicher zertifiziert hatte". In diesem Zusammenhang fanden auch strafrechtliche Ermittlungen gegen Verantwortliche von TÜV Süd statt, die aber (bisher) ergebnislos blieben.
Die deutsche Kontaktstelle kam in dem OECD-Verfahren nach der Plausibilitätskontrolle im Rahmen ihrer Eingangsprüfung Mitte 2022 zu dem Ergebnis, dass eine vertiefte Überprüfung der Vorwürfe gegen TÜV Süd gerechtfertigt sei. Laut dem OECD-Jahresbericht 2023 zu den Nationalen Kontaktstellen werden insgesamt etwa 65 Prozent aller Verfahren nach der Eingangsprüfung weiterverfolgt und den Parteien wird ein Angebot zur Durchführung eines Mediationsverfahrens gemacht.
Teilnehmen oder nicht?
Die Teilnahme an solchen Mediationsverfahren ist im Ausgangspunkt freiwillig. Bei einer Verweigerung ist aber mit teils empfindlichen Konsequenzen zu rechnen, die einen faktischen Teilnahmezwang begründen: Die deutsche Kontaktstelle erstellt auch für den Fall, dass ein Unternehmen die Teilnahme ablehnt, grundsätzlich einen Abschlussbericht. Und dieser Bericht wird auf der Internetseite der deutschen Kontaktstelle für jedermann einsehbar eingestellt. Während Unternehmen, die an dem Mediationsverfahren teilnehmen, Einfluss auf den Inhalt des Berichts nehmen können, besteht diese Möglichkeit für sich verweigernde Unternehmen nicht. Im letzteren Fall beinhaltet der Bericht dann auch regelhaft Informationen (i) zu den im Raum stehenden Vorwürfen, einschließlich der Identifizierung des Unternehmens, sowie (ii) zu den Gründen, warum die Einigung scheiterte.
Sowohl durch die oftmals begleitende öffentliche Kampagnenführung von NGOs als auch nachteilige Ausführungen in den öffentlichen Abschlussberichten drohen Unternehmen erhebliche Reputationsverluste. Ebenso kann eine fehlende konstruktive Beteiligung an der Mediation nach den Verfahrensgrundsätzen der deutschen Kontaktstelle dazu führen, dass die Gewährung bestimmter Leistungen der Außenwirtschaftsförderung versagt wird, wie z.B. Export- und Investitionsgarantien.
All dies mag TÜV Süd dazu bewogen haben, im Brumadinho-Verfahren der Mediation vor der deutschen Kontaktstelle zuzustimmen. Derzeit enden etwa 50 Prozent der OECD-Verfahren, welche die Eingangsprüfung passieren, mit einer Einigung. In ca. 30 Prozent der Fälle verweigern Unternehmen dagegen die Mitwirkung and dem Verfahren und in 20 Prozent der Fälle scheitern Einigungen aus anderen Gründen. Im Brumadinho-Verfahren erarbeiteten die Parteien zusammen einen Maßnahmenkatalog. Die dort vereinbarten Maßnahmen zielen laut dem Abschlussbericht der deutschen Kontaktstelle von Mitte 2023 darauf ab, "die Rechte indigener Völker in Unternehmenskontexten allgemein, beim TÜV SÜD selbst und bei Lieferanten und Kunden des TÜV SÜD zu stärken". Bezüglich deskonkreten Inhalts des Maßnahmenkatalogs einigten sich die Parteien auf eine vertrauliche Behandlung.
Risiko für gerichtliche Folgeprozesse
Entsprechend ihrer Verfahrensgrundsätze nimmt die deutsche Kontaktstelle in den Beschwerdeverfahren selbst keine Prüfung vor, ob "die fraglichen Handlungen des Unternehmens mit den OECD-Leitsätzen vereinbar waren oder nicht". Gleichwohl können sich aber Risiken für nachgelagerte Gerichtsprozesse ergeben. Derartige Folge- und Parallelprozesse sind nicht selten. So folgten beispielsweise auf die Einleitung des OECD-Verfahrens im Brumadinho-Fall Klagen von mehr als 1.000 Betroffenen beim Landgericht München auf Schadensersatz gegen TÜV Süd, die aktuell weiter rechtshängig sind.
Zum Teil werden solche Parallel- und Folgeprozesse von NGOs auch gezielt vorbereitet oder unterstützt. Das OECD-Verfahren wird dann genutzt, um eine erste kostenlose Einschätzung des Falles einer unabhängigen Stelle zu erlangen. Auch können die Informationen und Empfehlungen aus dem Verfahren die Argumentationsbasis der Beschwerdeführer stärken und die Beweisführung erleichtern. Diesem Risiko sah sich auch TÜV Süd im OECD-Verfahren bezüglich des Brumadinho-Dammunglücks ausgesetzt. Daher äußerte sich das Unternehmen, dass es wegen paralleler Verfahren in der OECD-Mediation nicht möglich sei, einen Austausch zum konkreten Sachverhalt zu führen.
Zu bedenken ist darüber hinaus, dass es für OECD-Beschwerdeverfahren weder Beweisregeln noch einen Instanzenzug gelten. Dies birgt die Gefahr unbewiesener oder sogar sachlich unrichtiger Tatsachendarstellungen in Abschlussberichten. Auch werden von der deutschen Kontaktstelle oftmals Nichtjuristen als Mediatoren eingesetzt. Hiermit geht das Risiko einher, dass Abschlussberichte Aussagen enthalten, deren potenzielle Auswirkungen auf gerichtliche Folgeprozesse nicht bedacht wurden. Unternehmen sollten den Abschlussbericht deswegen kritisch prüfen und bei Beanstandungen ggf. ein verwaltungsgerichtliches Vorgehen gerichtet auf Widerruf entsprechender Aussagen erwägen.
Für ein Unternehmen kann es sich nach alledem nicht nur als Fallstrick erweisen, sich einem Mediationsangebot der Kontaktstelle zu verweigern. Auch eine freigiebige Teilnahme an der Mediation und eine bedenkenlose Hinnahme der Darstellungen des Abschlussberichts bergen Risiken. Betroffene Unternehmen sind daher gut beraten, strategische Schritte sorgsam zu planen.
Dr. Boris Kasolowsky ist Partner und Dr. Leane Meyer ist Associate in der Praxisgruppe Dispute Resolution der Anwaltssozietät Freshfields in Frankfurt am Main.
OECD-Beschwerdeverfahren gegen Unternehmen: . In: Legal Tribune Online, 23.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56392 (abgerufen am: 12.02.2025 )
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