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Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen: Was ist dran am Apart­heid-Vor­wurf gegen­über Israel?

Gastbeitrag von Lisa Wiese

28.07.2022

Israelische Soldaten nehmen Stellung während einer Demonstration gegen israelische Siedlungen im Dorf Beita nahe der Stadt Nablus im Westjordanland.

Die Völkerrechtswissenschaft streitet über den Anwendungsbereich und die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Verbrechen der Apartheid. Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Nasser Ishtayeh

Ob Israel Apartheid an Palästinensern verübt, ist nicht nur eine politische, sondern auch eine rechtliche Frage. Denn "Apartheid" ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der komplexen Beantwortung dieser Frage geht Lisa Wiese nach. 

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Die internationalen Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch sowie die israelische NGO B'tselem veröffentlichten in den letzten Monaten unabhängig voneinander umfassende Berichte, die nahe legen, dass sich Israels Behörden der Apartheid und der Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven schuldig machen – beides Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch der aktuelle Report einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, schließt sich dieser Annahme an. 

Der Vorwurf enthält eine große Sprengkraft. Wörtlich heißt es im zuletzt erschienenen Amnesty Bericht, Israel halte "ein institutionalisiertes Regime der Unterdrückung und Vorherrschaft aufrecht", das dazu bestimmt sei, die Palästinenser als eine "minderwertige, ethische Gruppe zu unterwerfen und sie absichtlich ihren Rechten zu berauben". 

Weiter heißt es, die Beschlagnahmung von palästinensischem Land und Eigentum, rechtswidrige Tötungen, Zwangsumsiedlungen, drastische Bewegungseinschränkungen und die Verweigerung der Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft für Palästinenser seien Bestandteile dieses Systems. Bewertet werden die gesamten Beobachtungen und Dokumentationen als ein Verstoß gegen das Verbot von Apartheid. 

Israel und deutsche Regierung widersprechen Apartheid-Vorwurf

Israels Außenminister Jair Lapid wies die Vorwürfe empört zurück. Auch Deutschlands ehemaliger Regierungssprecher und seit 2022 Botschafter in Israel Steffen Seibert widersprach den Einschätzungen der Berichte deutlich und lehnte den Begriff "Apartheid" im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt genauso ab, wie eine einseitige kritische Betrachtung Israels. Der Kolumnist Sascha Lobo bezeichnete den Bericht von Amnesty International auf Spiegel-Online als "woken Antisemitismus" und meinte sogar, wer weiter an Amnesty spende, fördere die "antisemitische Sache". 

Apartheid ist Rechtsbegriff 

Um jenseits von reflexhaften Verhalten der Frage nachzugehen, ob das Verhalten Israels mit Apartheid in Verbindung gebracht werden kann, muss zunächst der Begriffsbedeutung nachgegangen werden. Geprägt ist der Begriff Apartheid von diskriminierenden Praktiken in Südafrika, er geht, was vielfach verkannt wird, als Rechtsbegriff aber über diesen spezifischen Fall hinaus. Internationale Verträge definieren den Begriff als einen universellen Rechtsbegriff, der sich auf eine besonders schwere und systematisierte Form der diskriminierenden Unterdrückung bezieht. Das internationale Strafrecht, einschließlich der Anti-Apartheidkonvention von 1974 (Artikel 2) und des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 (Art. 7 Abs. 2 j), definiert Apartheid als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das aus drei Elementen besteht: 

(1)    Die Absicht einer rassischen Gruppe, eine andere zu dominieren;
(2)    Die systematisierte Unterdrückung der dominanten Gruppe gegenüber der marginalisierten Gruppe und
(3)    Besonders schwerwiegende Verstöße in Form unmenschlicher Behandlung

Während die amtierende israelische Regierung den Vorwurf als falsch und antisemitisch zurückweist, haben frühere israelische Premierminister wie Yitzhak Rabin (1922-1995) oder David Ben Gurion (1967), sowie der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter und später der US-Außenminister John Kerry in der Vergangenheit bereits vor dem Szenario Apartheid gewarnt, wenn sich die israelische Besatzung nicht ändern würde. 

Apartheid auch im Falle des Handelns aus Sicherheitsinteressen?

Laut Amnesty-Bericht ist seit der Gründung Israels im Jahr 1948 Politik, Gesetzgebung und Praxis von dem übergeordneten Ziel bestimmt, eine jüdische Bevölkerungsmehrheit herbeizuführen und die jüdisch-israelische Kontrolle über das Land zu verstärken. Verteidigt werden diese Bestrebungen von der israelischen Regierung damit, dass sie die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger mit legitimen Maßnahmen gewährleisten und den Bestand des einzigen mehrheitlich jüdischen Staates des Welt und damit Fluchtort aller verfolgten Juden sichern muss. 

In dieser Hinsicht sind die Berichte der Menschenrechtsorganisationen durchaus kritisch zu sehen, wenn sie den Eindruck vermitteln, dass alle Maßnahmen seit der Staatsgründung mit schädigendem Vorsatz getroffen worden sind und die Berichte die berechtigten Sicherheitsinteressen Israels ausklammern. Zwar werden diese erwähnt, aber entweder nicht weiter auf ihre Legitimität hin überprüft oder direkt als unverhältnismäßig eingeordnet. 

Bedrohung durch die Palästinenser können Anlass geben zu prüfen, ob dies möglicherweise einen Rechtfertigungsgrund (Art. 31 IStGH-Statut) in Form einer Notwehr oder eines Notstands sein könnte. 

Anwendungsbereich des Apartheid-Tatbestandes ist umstritten

Praktisch decken sich viele Merkmale des Apartheid-Verbrechens mit denen anderer unmenschlicher Taten nach § 7 Rom-Statut, die absichtlich großes Leiden oder ernste Verletzungen von Körper, Geist oder Psyche bewirken. Daher könnten Apartheid-Praktiken auch leicht unter irgendeine andere Tat subsumiert werden. 

Fraglich ist, ob das Apartheidverbrechen gegenüber anderen Tatbeständen überhaupt eine notwendige präzise Besonderheit aufweist. Weil der Tatbestand unklar definiert ist und das Fallrecht fehlt, streitet die Völkerrechtswissenschaft über den Anwendungsbereich und die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Verbrechen. 

Für die Möglichkeit der eigenständigen Strafbarkeit wegen Apartheid spricht, dass die Definition des Begriffs ein eigenständiges Merkmal aufweist, nämlich das "institutionalisierte Regime". Danach liegt Apartheid nur dann vor, wenn ein konkreter Plan oder eine Politik dazu institutionalisiert wurde, eine rassische Gruppe systematisch zu unterdrücken und zu dominieren. 

Gesetzliche oder tatsächliche Diskriminierung für "Apartheid" erforderlich?

Ob eine gesetzliche (de jure) oder nur faktische (de facto) Diskriminierung und Unterdrückung gemeint ist bleibt dem Wortlaut nach jedoch offen. Fordert man Ersteres, so wäre die Einordnung der israelischen Regierungspolitik als Apartheid-Staat zweifelhaft, weil Israel zumindest dem einfachen Gesetz nach eine multi-ethische Demokratie mit garantierten gleichen Staatsbürgerrechten für Nicht-Juden ist. 

In der Knesset, im Obersten Gericht sowie in Leitungsämtern von Universitäten und Armeeeinheiten sind palästinensische Araber vertreten. Es gibt Bürgerrechte, Mehrheitswahlrecht und Minderheitenschutz in einem Maß, wie es kein anderer Staat im mittleren Osten seinen ethnischen und religiösen Minderheiten gewährt. 

"Democracy here and apartheid there"?

Was die faktische Diskriminierung angeht, lässt sich jedoch schwer abstreiten, dass in den von Israel kontrollierten und besetzten Gebieten im Westjordanland ein institutionalisiertes und auf Dauer angelegtes System der Diskriminierung zumindest dem Anschein nach (prima facie) erkennbar ist: Segregation, Verdrängung aus strategischen Gebieten, Administrativhaft, Folter, unverhältnismäßiger Gewalteinsatz und die Verweigerung elementarer Rechte und Freiheiten durch israelische Behörden und Streitkräfte. 

Diese Praktiken sind in einem umfangreichen Korpus von Berichten von israelischen, palästinensischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen sowie den UN-Menschenrechtsrapporteure dokumentiert. Die gezielte Ansiedlung von jüdischen Einwohnern verändert die Bevölkerungsstruktur und der Bau von mehr als 300 jüdischen Siedlungen mit 700.000 israelisch-jüdischen Siedlern führt zur Etablierung eines dualen rechtlichen und politischen Systems. 

Dieses System räumt den jüdisch-israelischen Siedlern umfassende Rechte und Lebensbedingungen ein, während es den Palästinensern militärische Herrschaft und Kontrolle auferlegt, ohne dass der grundlegende Schutz des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte gewährleistet ist. Israel verweigert diese Rechte und Bedingungen auf der Grundlage der ethnischen und nationalen Identität. 

Gerichtliche Klärung vorerst nicht zu erwarten 

Eine endgültige völkerrechtliche Beurteilung, ob der Tatbestand der Apartheid erfüllt ist und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt, kann seriös nur den zuständigen Organen vorbehalten sein, etwa der eingerichteten Ad-hoc Vergleichskommission oder dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) im Rahmen seiner territorialen Zuständigkeit. Auch nationale Verfahren auf Grundlage des Weltrechtsprinzips könnten prüfen, ob der Vorwurf des Apartheid-Verbrechens zu Recht erhoben wird. 

Zwar laufen Vorermittlungen des IStGH zu Kriegsverbrechen in den von Israel besetzten Palästinensergebieten, doch nicht wegen des Tatbestandes der Apartheid. Bisher hat jedoch überhaupt noch kein internationales oder nationales Gericht eine Person oder Gruppe dieses Verbrechens angeklagt und verurteilt. Zwar gibt es Bestrebungen gegen Nordkorea und Myanmar ein Verfahren wegen dem Verbrechen der Apartheid zu verfolgen, aber hier ist noch nicht einmal die Gerichtsbarkeit des IStGH geklärt.

Fraglich bleibt aber, ob das gewählte Framing "Apartheid" – eine Vorverurteilung seitens der NGO's – geeignet ist, einen Anstoß zu einer friedlichen Konfliktlösung zu bringen. Schließlich ist Apartheid nicht ausschließlich ein Rechtsbegriff, sondern wird auch als Metapher zur moralischen Beschreibung und Warnung verwendet. Faktisch wirkt das Apartheid-Label diffamierend, was politische Lösungen der Besatzung erschweren könnte. Andererseits lässt sich die Basis für eine friedliche Koexistenz nur legen, wenn Menschenrechtsverletzungen nicht länger als Normalität oder zur Durchsetzung von Sicherheitsinteressen hingenommen werden. Die dokumentierten Entwicklungen in Israel und Palästina sollten als Probleme anerkannt werden und Anlass geben, von Israel die Einhaltung von Menschenrechten zu fordern. 

Lisa Wiese (Ass. Iur.) ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Völker-, Europa- und Öffentliches Recht der Universität Leipzig. Sie forscht und lehrt zum Verfassungsrecht, zu Menschenrechten und Internationalem Strafrecht. Ihre Wahlstation verbrachte sie in Tel-Aviv, Israel und beschäftigte sich dort in einer Anwaltskanzlei mit jüdischen Restitutionsklagen und Diskriminierungsfällen. 

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Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen: . In: Legal Tribune Online, 28.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49171 (abgerufen am: 14.11.2025 )

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