Montagabend startete Sat.1 ein neues TV-Experiment: Auf einem Grundstück in Brandenburg sollen 15 Kandidaten "eine neue Gesellschaft" aufbauen, rund um die Uhr gefilmt von 105 Kameras. Wieso trotz aller Kritik Reality-Shows zwar nicht gegen die Menschenwürde verstoßen, aber dennoch im juristischen Grenzbereich liegen, erläutern Felix Hilgert und Philipp Sümmermann.
Zwei Hektar Land, etwas Geld und ein paar Tiere, viel mehr stellt Sat.1 den Kandidaten der TV-Sendung "Newtopia" nicht zur Verfügung. Ein Jahr lang sollen 15 Männer und Frauen auf dem Grundstück südöstlich von Berlin zusammen leben und sich gemeinsam eine Existenz aufbauen. Weitere Regeln von Seiten des Senders gibt es vorgeblich keine.
Die Idee zu der Sendung hatte John de Mol, der auch schon Big Brother in die ganze Welt verkauft hat. Und weil es sich bei Newtopia nicht um ein soziologisches Experiment, sondern knallhartes Reality-TV handelt, werden auch hier die Teilnehmer rund um die Uhr gefilmt. 105 Kameras und 57 Mikrofone zeichnen das Geschehen auf. Eine Stunde täglich sendet Sat.1 im Fernsehen, was die Bewohner so treiben. Rund um die Uhr werden mehrere Live-Streams ins Internet übertragen, eine App ermöglicht Zuschauern auch 360-Grad-Einblicke.
Im Jahr 2000 löste die Premiere von Big Brother noch einen empörten Aufschrei aus. Kritiker diffamierten die Sendung als "Menschenexperiment", echauffierten sich über den "Menschenzoo" und sahen gar die Freiheit der Gesellschaft als Ganzes in Gefahr. 15 Jahre, etliche Staffeln und Nachfolgesendungen später bleibt öffentlicher Aufruhr zu Newtopia aus. Größter Aufreger war noch, dass ProSiebenSat.1 nach einer Klage des Nachhaltigkeitsportals Utopia.de den ursprünglich geplanten Namen der Sendung änderte.
Die Aufsichtsbehörden schlafen aber nicht. Im Herbst 2014 beanstandete ein Gericht eine Folge "SuperNanny" als menschenrechtswidrig. Regelmäßig treten Jugendschützer auf den Plan, wenn sie im Fernsehen oder Internet Gefahren für Minderjährige sehen. Doch wann verstößt eine Sendung gegen die Menschenwürde und wann geht es "nur" um den Persönlichkeits- und Jugendschutz?
Rundfunksender dürfen ihr Programm selbst bestimmen
Unabhängig von Fragen der Moral oder des guten Geschmacks genießen die Sender in Deutschland den verfassungsrechtlichen Schutz der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG). Dass man eine Sendung aus Niveaugründen vielleicht nicht zeigen sollte, ist zu trennen von der Frage, ob sie gezeigt werden darf.
Gleichwohl ziehen die Trias des Art. 5 Abs. 2 GG den Sendern Grenzen, nämlich allgemeine Gesetze, Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre.
Konkretisiert werden diese Schranken in den programmaufsichtsrechtlichen Regelungen des Rundfunkstaatsvertrages (RStV), des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) und der jeweiligen Landesmediengesetze (LMG). Der Programmgrundsatz der Achtung der Menschenwürde ist in § 41 RStV und § 4 Abs. 1 Nr. 8 JMStV geregelt.
Der Kandidat als Objekt oder selbstbestimmtes Wesen
Obwohl er schon allein wegen des angeblich "würdelosen" Charakters vieler Sendungen häufig ins Feld geführt wird, lässt sich der Begriff der Menschenwürde nicht absolut definieren. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) benutzt gern die "Objektformel" von Günter Dürig: Der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt herabgewürdigt, hier also insbesondere nicht im Interesse der Quote instrumentalisiert werden.
Weil die Menschenwürde aber unantastbar ist, muss man mit dem Begriff behutsam umgehen. Es bedarf schon einer "Leugnung des fundamentalen Wert- und Achtungsanspruchs", der jedem Menschen zukommt, damit die Würde verletzt ist. Gerade die Möglichkeit, über unser Leben selbst bestimmen zu können, macht nämlich einen wesentlichen Aspekt der Menschenwürde aus. Dazu gehört auch die Teilnahme an Fernsehshows, die nicht dem Ideal der Hochkultur entsprechen.
SuperNanny: Menschenwürde der Kinder ist verletzt
Im September bestätigte das Verwaltungsgericht (VG) Hannover eine Entscheidung der staatlichen Kontrollorgane, die eine Folge der RTL-Sendung "Super Nanny" wegen Verstößen gegen die Menschenwürde beanstandet hatten (Urt. v. 08.07.2014, Az. 7 A 4679/12).
In der Fernsehsendung hatte eine alleinerziehende Mutter ihre weinenden und verängstigten damals drei, vier und sieben Jahre alten Kinder beschimpft, bedroht und mehrfach geschlagen. Der Sender zeigte das Geschehen mehrfach.
Die Richter bestätigten, dass hier gegen die Menschenwürde der Kinder verstoßen würde, weil die Gewalt- und Leidensbilder in großer Zahl sowie in mehrfachen Wiederholungen zu sehen waren. Die Schutzbefohlenen hätten ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, körperliche Bestrafungen, seelischer Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen seien gesetzlich verboten.
Big Brother-Bewohner "superunglücklich" über Kamerapause
Als RTL 2 im Jahr 2000 die erste Staffel von Big Brother senden wollte, hagelte es im Vorfeld reichlich Kritik. Zumindest juristisch verebbte diese nach den ersten Folgen aber rasch. Statt zu Objekten degradiert zu werden, inszenierten die Kandidaten sich selbst.
Die Bewohner des Containers spielten bewusst mit den Erwartungen des Publikums. Ihnen und den Zuschauern war jederzeit klar, dass die Wohnsituation so künstlich war, dass von einer realen Alltagsbeobachtung keine Rede sein konnte.
Auf Drängen der Medienaufsicht gab es damals sogar noch eine tägliche Kamerapause, über die die Kandidaten nach Senderangaben aber "superunglücklich" waren.
Die Sendung war für den Sender ein Quotenerfolg, für manche der Teilnehmer der Start einer Medienkarriere. Zehn weitere Staffeln sollten folgen. Klagen gab es keine.
2/2: Image-Streit zwischen "Sternchen" auf der Burg
Anders bei der Sendung "Die Burg" von Pro Sieben: Hier blieb aber der Sender unbehelligt, stattdessen gingen zwei der "Promi-Kandidaten" juristisch gegeneinander vor. Ein Boulevardsternchen beklagte sich unter anderem über einen angeblichen Imageschaden, weil ein anderer Teilnehmer der Sendung ihr ins Badewasser uriniert hatte. Vor laufenden Kameras hatte sie dann einen Arm ins Wasser gehalten.
Das Landgericht (LG) Berlin stellte fest, dass "das ganze Sendeformat erkennbar darauf angelegt war, dass sich die Teilnehmer zur Belustigung des Publikums bloßstellen und zum Teil entwürdigen, wohl um ihre Bekanntheit zu steigern."
Obwohl sich das Verfahren nicht gegen das Format als solches richtete, ließ das Gericht durchblicken, dass es durch das Format keine Persönlichkeitsrechtsverletzung oder gar eine Verletzung der Menschenwürde sah (AZ 27 0 348/08).
Frauentausch: Ziel, die Kandidatin lächerlich zu machen
Dass sich in den meisten Fällen die Kandidaten sehr bewusst auf die Formate einlassen, zeigt schon, dass es kaum Klagen von (Ex-)Teilnehmern von Reality-Formaten gibt.
Eine Ausnahme betrifft eine Folge der Sendung "Frauentausch", die ebenfalls bei RTL2 lief. Durch die Nachbearbeitung und Off-Kommentare fühlte sich eine Kandidatin herabgewürdigt und ließ weitere Wiederholungen erfolgreich untersagen.
Hier bejahte das LG Berlin, anders als bei der Burg-Entscheidung, eine Persönlichkeitsrechtsverletzung der Klägerin. Es begründete seine Entscheidung insbesondere mit der intellektuellen Überforderung der Frau und ihrer Unerfahrenheit im Umgang mit Medien. Die vorab unterzeichnete Mitwirkungsvereinbarung betrachtete es als unwirksam.
Einen Eingriff in die Menschenwürde nahm das Gericht aber auch hier nicht an. Die unzulässige Bearbeitung mit dem Ziel, die Klägerin lächerlich zu machen und auch das etwaige Inszenieren von Szenen sah es bloß als "überschießendes Moment", welches nicht die hohe Hürde einer Menschenwürdeverletzung erreichte (AZ 27 O 14/12).
Beleidigende Juryäußerungen bei DSDS desorientieren Kinder
Die Aufsichtsbehörden können aber auch eingreifen, lange bevor die Menschenwürde in Gefahr ist. Bei TV-Formaten sind dabei insbesondere Fragen des Jugendschutzes zu beachten.
So dürfen entwicklungsbeeinträchtigende Angebote nach § 5 JMStV in Deutschland grundsätzlich nur zu bestimmten Uhrzeiten ausgestrahlt werden. Darunter fallen insbesondere Sendungen, welche die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten beeinträchtigen, indem sie bloßstellende, herabwürdigende oder gesundheitsschädigende Verhaltensweisen verharmlosen oder als nachahmenswert darstellen.
Verstöße gegen den Jugendschutz können Sender teuer zu stehen kommen. Ein Bußgeld von 100.000 Euro musste beispielsweise RTL zahlen, weil der Sender vier Folgen der Casting-Sendung "Deutschland sucht den Superstar" im Nachmittagsprogramm wiederholte. Die beleidigenden Juryäußerungen empfanden die Jugendschützer als desorientierend für Kinder unter zwölf Jahren. Die Folgen hätten somit erst ab 20 Uhr ausgestrahlt werden dürfen.
Piercings erst ab 12, zugenähte Lippen ab 16 Jahren
Ebenfalls nicht für Kinder unter zwölf geeignet empfanden Jugendschützer eine Folge Big Brother aus dem Jahr 2004, bei der eine Kandidatin ein Brustwarzenpiercing erhielt. Das Piercen zu zeigen ohne auf die Risiken einzugehen, könnte junge Zuschauerinnen sozialethisch desorientierten.
Die Vorgaben des Jugendschutzes bekamen vergangenes Jahr auch die ProSieben-Moderatoren Joko und Klaas zu spüren. Die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) beanstandete im vergangenen Jahr ihre Spielshow "Das Duell um die Welt", weil sich Moderator Joko Winterscheidt in der Sendung die Lippen zunähen ließ. Obwohl künstlich in zwei Sendeteile aufgeteilt, hätte nach Auffassung der Jugendschützer die ganze Sendung erst nach 22 Uhr laufen dürfen: Ab dann sind Sendungen für Zuschauer ab 16 Jahren zulässig.
Sat.1 strahlt die Sendung bereits um 19 Uhr aus, das Format wird also für alle Altersgruppen geeignet sein müssen. Dennoch: In der ersten Folge erzählte ein Kandidat bereits von seiner Liebe zur Polygamie, eine Kandidatin packte unter Beobachtung der Kameras Kondome ein. Die Regie wird darauf achten müssen, dass auch die Livestreams im Internet keine entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalte zeigen oder durch geeignete technische Mittel den Zugriff von Kindern verhindern.
Die Praxis zeigt also, dass ein Menschenwürdeverstoß, der zum Sendeverbot führt, nur in besonders krassen Fällen angenommen werden kann. Zwar bietet auch Newtopia eine Reihe schillernder Charaktere - anders als in dem entschiedenen Fall der "Super Nanny" ist eine Zurschaustellung von besonders schutzbedürftigen Teilnehmern aber kaum zu erwarten.
Felix Hilgert ist als Rechtsanwalt bei Osborne Clarke in Köln tätig. Er berät hauptsächlich Unternehmen aus der Gamesbranche mit einem Schwerpunkt im Jugendschutzrecht. Philipp Sümmermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Osborne Clarke.
Philipp Sümmermann und Felix Hilgert, TV-Experiment Newtopia: Menschenwürde im Niemandsland . In: Legal Tribune Online, 24.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14775/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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