Wie viel Gehirnentwicklung braucht es, um strafmündig zu sein oder Cannabis konsumieren zu dürfen? Welche Folgen hat sie für die Altersgrenze bei der Todesstrafe in den USA? Ein Interview mit dem Neurorechtler Stephan Schleim.
LTO: Herr Professor Schleim, Sie befassen sich mit Neurorecht. Was ist das?
Dr. Stephan Schleim: Der Begriff beschreibt die Brücke zwischen Hirnforschung, Psychologie und Recht. Konkret befasse ich mich in meiner Forschung vornehmlich mit zwei Aspekten: Zum einen mit der Anwendbarkeit neurowissenschaftlicher Verfahren wie etwa Hirnscannern als Lügendetektor oder zur Beurteilung der Gefährlichkeit von Straftätern in Gerichtsverfahren. Und zum anderen mit der Bedeutung von Erkenntnissen aus der Hirnforschung für die Rechtswissenschaften und Gesetzgebung. Das betrifft dann etwa Fragen der Willensbildung, die Entwicklungen des Gehirns und die Strafmündigkeit, Schuldfähigkeit oder der Altersgrenzen für Cannabis oder Alkohol.
Sie selbst sind aber kein Jurist?
Nein, ich habe Philosophie, Psychologie und Informatik studiert und bin in der Kognitionswissenschaft promoviert. In den vergangenen 20 Jahren arbeitete ich aber vielfach mit Rechtswissenschaftler:innen zusammen, was sehr gute Erfahrungen waren. Ich war kurze Zeit als Professor für Neurophilosophie an der LMU München tätig und bin seit 15 Jahren in der theoretischen Psychologie in Groningen (Niederlande).
Dort führte ich ein zweiteiliges Forschungsprojekt aus: Der erste Teil betraf die genannten Fragen im Kontext der Neuroethik, der zweite Fragen des Neurorechts.
Zu beiden Teilen sind Bücher erschienen, die dank öffentlicher Förderung kostenlos abrufbar sind. In dem zuletzt erschienenen geht es um Gehirnentwicklung und die Frage, ob sich auch rechtspolitische Diskussionen an dem orientierten sollen, was wir über das Gehirn wissen.
Cannabis, Todesstrafe, Strafmündigkeit
Welche Fragen stellen sich in diesem Rahmen für Sie als Wissenschaftler?
Die Forschung hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Frage befasst, ob wir die Altersgrenzen im Recht besser ziehen können, wenn wir mehr über Gehirnentwicklung wissen. Ich habe mir dazu aus Deutschland, den Niederlanden und den USA konkrete Fallbeispiele angeschaut.
Ganz banal fängt es in Deutschland ja mit der Volljährigkeit an: Man wird 18 und plötzlich passiert rechtlich ganz viel mit uns. Eine wesentliche Frage war dann die nach den Altersgrenzen beim Konsum von Cannabis und Alkohol, aber auch die grundsätzliche Frage der Schuldfähigkeit und der Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende, also Menschen zwischen 18 und 21 Jahren.
Für Deutschland habe ich die Diskussion um die Cannabis-Legalisierung analysiert, bei der ja viele Ärzte die Altersgrenze von 25 Jahren gefordert haben. Aktuell ist der Besitz von Cannabis in gewissen Grenzen erst ab 18 Jahren überhaupt erlaubt und für Heranwachsende bis 21 Jahre gilt ein begrenzter THC-Wert. Die Frage ist also: Passt die Diskussion zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen?
Und worum geht es bei den USA und in den Niederlanden?
Bei den Beispielen aus den USA geht es um das Mindestalter für die Todesstrafe, in den Niederlanden habe ich die Diskussion um die Strafmündigkeit analysiert. Dort wurde 2014 die Grenze für die vollständige Strafmündigkeit auf 23 angehoben. Bei dieser Entscheidung hatte sich der Gesetzgeber weit auf die neurowissenschaftliche Diskussion eingelassen. Daher spreche ich hier auch vom ersten "Neurostrafrecht" der Welt.
Zum Vergleich: In Deutschland gehen die Gerichte im Standardfall davon aus, dass die Angeklagten bis 21 Jahre nach Jugendstrafrecht behandelt werden und weichen nur in Ausnahmefällen davon ab. In rund zwei Drittel der Fälle werden die Verfahren in dieser Altersgruppe nach Jugendstrafrecht geführt. In den Niederlanden ist das umgekehrt, da sind es in dieser Altersgruppe gerade einmal sechs Prozent. Die Gerichte gehen davon aus, dass man ab 18 Jahren voll strafmündig ist und weichen davon nur im Ausnahmefall ab, nämlich, wenn die Persönlichkeit des Angeklagten oder die Umstände der Tat das rechtfertigen. Strafverteidiger kritisieren hier aber eine gewisse Willkür und das Gesetz wird zurzeit noch evaluiert.
Wie ist der Stand der Diskussion um die Altersgrenze bei der Todesstrafe in den USA?
In den USA gibt es durch das föderale System keine einheitlichen Regeln zur Todesstrafe, einige Staaten verhängen diese ja gar nicht. Vorher lag die Untergrenze bei 16 Jahren, doch im Jahr 2005 hielt der Supreme Court das für eine "außergewöhnliche und grausame" Strafe und damit für verfassungswidrig. Seitdem ist die Todesstrafe für Personen, die zum Tatzeitpunkt unter 18 Jahre alt waren, generell untersagt.
Forscher in den USA plädieren nun für eine weitere Anhebung, zum Beispiel auf 21 Jahre. Damit wollen sie auch gegen Rassismus vorgehen, weil junge Schwarze am häufigsten die höchsten Strafen bekommen. Man muss hier aber auch bedenken, dass es um wirklich sehr brutale Gewaltverbrechen geht.
Eine weitere Anhebung der Altersgrenze halte ich für unwahrscheinlich. Das hat aber weniger mit der Wissenschaft als mit Parteipolitik zu tun. Eine Tabelle in meinem Buch zeigt sehr eindrücklich, wie knapp diese Entscheidungen am Supreme Court ausfallen. Dabei votieren die von den Demokraten nominierten Richter meist für eine Abmilderung, die der Republikaner für eine Verschärfung. Seit Trumps erster Präsidentschaft haben Letztere eine 6:3-Mehrheit.
Diese Rechtsprechung entwickelt sich momentan dazu weiter, wann eine lebenslängliche Haftstrafe ohne Aussicht auf Bewährung verhängt werden darf. Die Sichtweise hierzu ist differenzierter: Nach Sicht des heutigen Supreme Court sollen die Möglichkeiten der Geschworenen hier nicht zu stark beschnitten werden.
"Lobby ohne wissenschaftliche Belege"
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Forschung?
Wir sehen heute in rechtspolitischen Diskussionen, dass es immer eine Lobby gibt, die sich aus sehr individuellen Interessenlagen für bestimmte Altersgrenzen ausspricht. Die Forderung nach einer Altersgrenze von 25 Jahren etwa hat mich bei der Cannabis-Diskussion mehr als irritiert. So eine Forderung ist in Bezug auf die Gehirnentwicklung neurobiologisch nicht plausibel und widerspricht ganz klar den neuesten Befunden.
Zwar steht fest, dass das Gehirn ein Organ ist, das sich ein Leben lang kontinuierlich entwickelt. Diese Vorgänge sind aber in der Jugend weit fortgeschritten und mit 18 Jahren größtenteils abgeschlossen. Diese Altersgrenze ist darum neurologisch und psychologisch plausibel. Da hat das Recht also eine gute Lösung gefunden, auch ohne ins Gehirn zu schauen.
Sollten Richter:innen häufiger das Erwachsenenstrafrecht bei Heranwachsenden anwenden?
Die genannten Aussagen der Wissenschaft gelten im Allgemeinen. Es gibt inzwischen Untersuchungen mit 100.000 Teilnehmenden von der 16. Schwangerschaftswoche bis zum Alter von 100 Jahren. Demnach sind die meisten Menschen mit 18 neurobiologisch und psychologisch schon sehr reif. Aber trotzdem sind wir auch alle Individuen, sind keine zwei Menschen, keine zwei Gehirne dieselben.
Gerade darum braucht es weiter die Richter:innen, die genau auf den Einzelfall schauen. Aus Sicht der Entwicklung ist das deutsche Strafrecht eher milde. Aus gesellschaftlicher Sicht und unter dem Aspekt der Rehabilitation kann man hingegen gut argumentieren, auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht anzuwenden. Denn bei maßgeschneiderten Strafen, die einen Weg zur Reintegration weisen, ist die soziale Prognose günstiger.
"Quantifizierung von Schmerz nur individuell"
Welche Ergebnisse hält Ihre Forschung für die Rechtswissenschaft parat?
Natürlich möchten Jurist:innen bzw. Richter:innen gerne konkrete Antworten. In meinem Workshop an der Deutschen Richterakademie zeigten sich Teilnehmende sehr interessiert, ob sich Schmerz im Gehirn quantifizieren lässt, um die Höhe von Schmerzensgeld besser bestimmen zu können. Weil das Schmerzempfinden so subjektiv ist, kann die Hirnforschung hier aber nur Anhaltspunkte liefern.
Vor 20 Jahren, zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit, ging es insbesondere in den USA um die Entwicklung ganz neuer Lügendetektoren. Die Firmen, die damals mit weitreichenden Versprechungen kamen, gibt es heute nicht mehr. Diese Tests funktionieren nicht, weil es, einfach gesagt, im Gehirn kein "Lügenmodul" gibt.
Leider muss ich daher sagen: Aus neurorechtlicher Sicht erscheinen solche Fragen heute noch komplexer und schwieriger als einfacher.
Das betrifft auch die Frage der Verantwortlichkeit: Diese lässt sich am Verhalten der Menschen besser ableiten als am Gehirn. Die Entscheidungen müssen also die Richter:innen weiter mit den etablierten Verfahren treffen. Es ist nicht absehbar, dass die Neurowissenschaft ihnen diese Arbeit abnehmen kann.
Ich habe jetzt viel gehört, wofür Ihre Forschung nicht taugt. Aber wo hilft sie?
Das ist das Problem, alle wollen eine sexy message, aber die Forschung ist komplexer. Wir können den Gerichten keine pauschalen Antworten geben. Die Gerichte sind also weiter auf die eigene Analyse des konkreten Verhaltens der Personen – auch in Hinblick auf Glaubwürdigkeit von Aussagen – angewiesen.
Nur in Extremfällen, etwa bei schweren Hirnschädigungen, kann man neurologische Aussagen treffen, die unabhängig vom Verhalten einer Person einen hohen Beweiswert haben.
Wer also sollte Ihr Buch, das bisher nur auf Englisch erschienen ist, lesen?
Die Forschungsergebnisse sind für alle Menschen spannend, die sich an einer rechtspolitischen Diskussion beteiligen möchten, bei der es um Altersfragen geht. Das könnte z.B. relevant werden nach der Wahl, falls eine Diskussion um die Rücknahme der Cannabis-Entkriminalisierung starten sollte.
Im Übrigen wird es vermutlich noch in diesem Jahr eine deutsche Übersetzung geben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Stephan Schleim, PhD, M.A., ist assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Fakultät für Verhaltens- und Sozialwissenschaften an der Universität Groningen (Niederlande). Die im Interview erwähnten Bücher sind kostenlos im Internet abrufbar (PDF/EPUB) und sonst als Hardcover im Buchhandel erhältlich.
"Brain Development and the Law: Neurolaw in Theory and Practice" (2025) link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-72362-9
"Mental Health and Enhancement: Substance Use and Its Social Implications" (2023) link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-32618-9
Interview zu Hirnforschung und Recht: . In: Legal Tribune Online, 18.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56360 (abgerufen am: 12.02.2025 )
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