Wie lässt sich verhindern, dass Gewalttäter freikommen, die noch als gefährlich gelten? Über Monate haben Union und FDP um eine Lösung gestritten, die sowohl den Vorgaben der europäischen Rechtsprechung als auch den Sicherheitsbedürfnissen der Bürger entspricht. Nun hat die Bundesregierung einen Kompromiss beschlossen. Sven Rebehn bewertet ihn.
Zentrale Neuregelung: Mit einem Bundesgesetz will die Regierung neuartige Einrichtungen schaffen, in denen „psychisch gestörte“ Schwerkriminelle untergebracht werden. Zuständig für die Einweisung soll eine Zivilkammer des Landgerichts sein. Die Regierung spricht von einer neuer Form des Vollzugs, die weder Psychiatrie noch Gefängnis ist. Dort werde die Lebensführung der Betroffenen nur insoweit eingeschränkt, wie es für eine effektive Therapie unverzichtbar ist, sagt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Das neue Gesetz zielt auf Gefangene ab, die nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor der Entlassung stehen, weil ihre Sicherungsverwahrung zu Unrecht rückwirkend verlängert wurde. Die Straßburger Richter hatten entschieden, dass sich die Sicherungsverwahrung in Deutschland nicht hinreichend von der vorangegangenen Haft unterscheidet und damit dem Rückwirkungsverbot der Menschenrechtskonvention unterliegt.
Mindestens 80 Straftäter, die nach dem Absitzen ihrer Haft in Sicherungsverwahrung kamen, könnten sich nun auf das Urteil berufen und in den nächsten Monaten freikommen. Etwa 15 Gefangene mussten deutsche Gerichte bereits auf freien Fuß setzen. Und es droht weiteres Ungemach: Straßburg liegen knapp 30 weitere Beschwerden von Sicherungsverwahrten vor, auch beim Bundesverfassungsgericht sind etliche Beschwerden gegen die juristisch umstrittene nachträgliche Sicherungsverwahrung anhängig.
Therapie statt Sicherungsverwahrung
Diese Altfälle will die Bundesregierung möglichst durch ihr neues Gesetz erfassen. Die Logik: Wer sich vor Gericht den Weg aus der Sicherungsverwahrung erstreitet, soll in den neuen Therapie-Einrichtungen untergebracht werden. Das geht freilich nur, wenn den Betroffenen von Gutachtern neben weiterer Gefährlichkeit eine psychische Störung attestiert wird. Einfach dürfte das nicht sein, denn Straftäter in Sicherungsverwahrung sind in der Regel voll schuldfähig. Die neuen Vorschriften sind bei enger Auslegung also nur auf einen kleinen Teil der Altfälle anwendbar.
Bei zu weiter Auslegung droht hingegen die Gefahr, abermals in Straßburg zu scheitern. Denn das geplante Gesetz ist ersichtlich auf Artikel 5 der Menschenrechtskonvention zugeschnitten, der ausdrücklich von "rechtmäßiger Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken" spricht. Experten kritisieren die Pläne deshalb als faulen Kompromiss, der nicht über die geltende Rechtslage hinausgeht. Sie verweisen darauf, dass psychisch kranke Menschen schon heute nach den Unterbringungsgesetzen der Länder eingesperrt werden dürfen.
Für rückfallgefährdete Straftäter, deren weitere Unterbringung auch nach dem neuen Gesetz nicht zulässig ist, plant die Koalition eine verschärfte Aufsicht in Freiheit. Die Pläne zur Reform der Führungsaufsicht eröffnen die Möglichkeit, aus der Haft oder Sicherungsverwahrung entlassene Schwerkriminelle künftig anzuweisen, eine elektronische Fußfessel zur ständigen Kontrolle ihres Aufenthaltsortes zu tragen.
Neben den Regelungen für Altfälle strebt die Bundesregierung eine grundlegende Reform der Sicherungsverwahrung an. Die Koalition will die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschaffen, die noch während der Haftzeit angeordnet werden kann, auch wenn dies im Urteil nicht vorgesehen war. Zur Begründung verweist die Justizministerin darauf, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung in der Praxis kaum eine Rolle spielt. Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof eine Anordnung wegen der hohen verfassungsrechtlichen Hürden seit 2004 nur in knapp einem Dutzend Fälle gebilligt.
Geringere Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose
Im Gegenzug plant die Koalition den Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Den Gerichten soll hier deutlich mehr Spielraum gegeben werden. So wird ein Vorbehalt der Sicherungsverwahrung im Urteil künftig auch möglich sein, wenn ein gefährlicher Ersttäter betroffen ist. Zudem werden die Anforderungen an die Prognose der Gefährlichkeit des Verurteilten abgesenkt. Es soll ausreichen, dass das Gericht zum Zeitpunkt des Urteils einen Hang zu erheblichen Straftaten für "wahrscheinlich" hält. Schließlich wird der Zeitpunkt, bis zu dem endgültig über die Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, nach hinten verlagert. Künftig soll die Entscheidung bis zum Ende der Haftzeit möglich sein. Damit sollen Sicherheitslücken möglichst vermieden werden.
Schließlich will die Koalition die primäre Sicherungsverwahrung, die bereits im Strafurteil angeordnet wird, beschränken. Nicht mehr jede vorsätzliche Straftat soll ausreichen, um bei Wiederholungstätern die "Haft nach der Haft" anordnen zu können. Der Anwendungsbereich der Vorschrift wird den Plänen zufolge auf Sexual- und Gewaltstraftäter eingeengt, Seriendiebe oder Heiratsschwindler bleiben außen vor.
Die Bundesregierung legt einen Kompromiss vor, der die seit 1998 mehrfach verschärften Vorschriften zur Sicherungsverwahrung für die Zukunft auf ein rechtsstaatlich verträgliches Maß zurückführt. Mit dem geplanten Gesetz für Altfälle bewegt sich die Koalition aber auf einem sehr schmalen Grat. Sie geht damit hart an die Grenze dessen, was das Grundgesetz und die europäische Menschenrechtskonvention zulassen.
Der Autor Sven Rebehn ist Assessor und Redakteur mit den Schwerpunkten Rechts- und Innenpolitik.
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Neuregelung der Sicherungsverwahrung beschlossen: . In: Legal Tribune Online, 01.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1342 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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