Rauchende Schüler sind nicht unfallversichert, ebenso wenig Beschäftigte beim gemeinsamen Fußball-Cup - Bewerber beim Kennenlern-Tag aber schon. Zudem führen überlange Prozesse zu Schadensersatz. Hier die wichtigsten Entscheidungen des BSG:
1/9 Entschädigung nach Krankheit des Richters
Verfahren dauern ihre Zeit - und sie dauern noch länger, wenn der zuständige Richter krank wird. Dauert die Verzögerung jedoch unangemessen lange, so führt dies zu einer Entschädigungspflicht des Staates aus § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Für jedes Jahr der Verzögerung wird ein auszugleichender Nichtvermögensschaden in Höhe von 1.200 Euro gesetzlich vermutet.
So auch in dem Fall aus der Hauptstadt: Über viereinhalb Jahre hatte der Kläger in Berlin ein Verfahren gegen die Bundesagentur für Arbeit über den Erlass einer Darlehensschuld geführt. Die lange Verfahrensdauer beruhte u.a. auf erheblichen Krankheitszeiten des zunächst zuständigen Kammervorsitzenden. Der Kläger bekam vorprozessual 1.200 Euro Entschädigung vom Land Berlin und weitere 1.300 Euro vom Entschädigungsgericht zugesprochen. Das hat jedoch u.a. drei Monate der gerichtlichen Untätigkeit im Ausgangsverfahren pauschal als nicht entschädigungspflichtig angesehen, weil die Erkrankung des zuständigen Kammervorsitzenden insoweit einen Fall höherer Gewalt darstelle.
Bei Sozialprozessen gilt regelmäßig bis zu zwölf Monate je Instanz als entschädigungsfreie "Vorbereitungs- und Bedenkzeit", entschied schließlich das Bundessozialgericht (BSG, Urt. v. 24.03.2022, Az. B 10 ÜG 2/20 R). Pro entschädigungspflichtigen Monat bekommt ein Kläger pauschal 100 Euro, das machte in diesem konkreten Fall eine Entschädigung von insgesamt 2.800 Euro.
2/9 Rauchender Schüler ist nicht unfallversichert
Verlässt ein Schüler in der Pause das Schulgelände, um im angrenzenden Stadtpark zu rauchen, so ist er da nicht unfallversichert (BSG, Urt. v. 28.06.2022, Az. B 2 U 20/20 R). So erging es einem volljährigen Schüler, der an einem stürmischen Tag seine Pause in einem Park verbrachte. Ein Ast fiel herab und verletzte den Schüler, er erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma.
Das Landessozialgericht und dann auch das BSG lehnten die Klage des Schülers auf Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Der organisatorische Verantwortungs- und Einflussbereich der Schule sei auf das Schulgelände beschränkt, entschieden die Richterinnen und Richter. Der ende - ebenso wie die Aufsichtspflicht und -möglichkeit - am Schultor. Das gelte auch dann, wenn sich in einem angrenzenden Park ab und an Schülerinnen und Schüler aufhielten.
3/9 Gesellschafter-Anwälten können sozialversicherungspflichtig sein
Als Anwalt zugelassene Gesellschafter-Geschäftsführer können als Angestellte der GmbH im sozialversicherungsrechtlichen Sinne anzusehen sein. Das gilt dann, wenn sie nicht über 50 Prozent oder mehr an der Gesellschaft beteiligt sind oder über umfangreiche Möglichkeiten im Gesellschaftsvertrag verfügen, für sie negative Beschlüsse zu verhindern. Allein die Tatsache, dass es sich um eine anwaltliche Tätigkeit handelt, die Betroffenen also unabhängige Organe der Rechtspflege sind, steht dem nicht entgegen, so das BSG (Urt. v. 28.06.2022, Az. B 12 R 4/20 R).
In dem Fall aus Mannheim klagten fünf Rechtsanwälte und Gesellschafter-Geschäftsführer einer RA-GmbH, die von der Rechtsanwaltskammer Karlsruhe zugelassen waren. Sie arbeiteten weisungsfrei und unabhängig und übernahmen Anwaltsaufträge, führten insbesondere die Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten und alle damit im Zusammenhang stehenden Geschäfte aus. Sie hielten zunächst jeweils 20 Prozent, nach Ausscheiden eines Klägers 25 Prozent der Gesellschaftsanteile.
In der konkreten Ausgestaltung aber sah das BSG typische Regelungen für eine abhängige Beschäftigung und damit auch bei diesen Geschäftsführern eine Sozialversicherungspflicht. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn die Geschäftsführer-Gesellschafter einer RA GmbH über eine Sperrminorität verfügen oder Mehrheitsgesellschafter wären.
4/9 Verletzung beim Fußball-Cup ist kein Arbeitsunfall
Obacht, wer für den eigenen Arbeitgeber bei einem Fußball-Cup antritt, denn die Teilnahme ist im Zweifel keine betriebliche Veranstaltung. Und so sind dann auch Verletzungen kein Arbeitsunfall, entschied das BSG zu einem Unfall, der sich während eines vom Unternehmen ausgeschriebenen Fußballspiels ereignete (BSG, Urt. v. 28.06.2022, Az. B 2 U 8/20 R).
Zwar hatte in dem Fall das Gesundheitsmanagement des Unternehmens mit einem Aushang und anderen betriebsinternen Veröffentlichungen zu dem Fußball-Cup eingeladen. Allerdings fehle es für eine Qualifizierung als Betriebssport am charakteristischen Ausgleichszweck, so das BSG. Zudem sei die Teilnahme nur für eine bestimmte Gruppe der Beschäftigten interessant gewesen. Unfallversicherungsschutz bestehe zudem nur bei einem inneren Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit.
5/9 Trinkgeld ist kein Einkommen
Eine Servicekraft in der Gastronomie muss sich das Trinkgeld nicht auf die ALG II-Leistung anrechnen lassen, entschied das BSG (Urt. v. 13.07.2022, Az. B 7/14 AS 75/20 R).
In dem zugrunde liegenden Fall wollte das Jobcenter einer Frau den Anspruch auf ALG II mindern, weil sie 25 Euro monatlich Trinkgeld bekam. Das BSG hat jetzt klargestellt, dass das so nicht möglich ist - Trinkgeld sei nur eine Zuwendung, die Dritte erbringen, ohne dass dafür eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung bestehe.
Eine Ausnahme zu dieser Regel besteht nur dann, wenn das Trinkgeld zehn Prozent des Regelbedarfs übersteige. Denn dann sei es so hoch, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht mehr gerechtfertigt wären. Der Regelbedarf umfasst das, was zur Sicherung des Lebensunterhalts und zum Leben in einer Gemeinschaft notwendig ist. Er ist das sogenannte sozio-kulturelle Existenzminimum.
6/9 Unfallschutz beim Kennenlern-Tag
Bei einem eintägigen unentgeltlichen Kennenlern-Praktikum steht die Bewerberin unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, entscheid das BSG (Urt. v. 31.03.2022, Az. B 2 U 13/20 R). Die Frau hatte sich initiativ beworben und war zu einem Kennenlern-Praktikum eingeladen worden. Sie wurde über das Betriebsgelände geführt, hatte ein längeres Gespräch in der Abteilung, in der sie hätte arbeiten sollen und besichtigte das Lager, für das sie eventuell später als IT-Administratorin hätte tätig werden sollen. Während dieser Besichtigung des Hochregallagers stürzte die Klägerin und brach sich den rechten Oberarm.
Das BSG betonte, es komme für die Beurteilung der Versicherteneigenschaft nicht auf den gesamten Kennenlern-/Praktikumstag an, sondern auf die letzte unmittelbar vor dem Unfallereignis ganz konkret ausgeübte Verrichtung. Es würden auch Bewerber bei Vorstellungsgesprächen erfasst, soweit sie das Unternehmen besichtigen. Dass die Bewerberin auch eigene Angelegenheiten - Kennenlernen des potenziellen zukünftigen Arbeitgebers - verfolgte, stehe der Annahme einer versicherten Tätigkeit nicht entgegen, so das BSG. Anders als die beklagte Berufsgenossenschaft und die Vorinstanzen hat das BSG daher festgestellt, dass die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat.
7/9 Unfallversicherung beim ehrenamtlichen Adventssingen
Ein Unfall auf dem Weg zum öffentlichen Adventssingen in den Räumlichkeiten einer evangelischen Kirchengemeinde kann einen Arbeitsunfall darstellen, entschied das BSG (Urt. v. 08.12.2022, Az. B 2 U 19/20 R). Denn seit dem Gesetz zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen aus 2004 sei der Versicherungsschutz nicht mehr von einem unmittelbar ehrenamtlichen Tätigwerden für eine Religionsgemeinschaft abhängig, betonte das BSG. Ausreichend sei seither ein nur mittelbar ehrenamtliches Tätigwerden über eine privatrechtliche Organisation (§ 2 Abs 1 Nr. 10 Buchst b SGB VII).
Die Klägerin war Mitglied eines Frauenchores, der in den Räumlichkeiten einer evangelischen Kirchengemeinde ein öffentliches Adventssingen darbieten wollte. Sie sei also für eine private Organisation mit ausdrücklicher Einwilligung einer öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft tätig gewesen. Denn das Adventssingen des privat organisierten Frauenchores habe freiwillig, unentgeltlich und im Interesse des Gemeinwohls im Rahmen einer kirchlichen Veranstaltung stattgefunden.
Dass die Klägerin das Singen in dem Chor vornehmlich aus Freude am Gesang und der Gemeinschaft ausüben wollte, stehe dem versicherten Ehrenamt nicht entgegen. Denn, so das BSG, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit mit Freude daran oder an der Gemeinschaft ausgeübt wird, gehöre zum Wesen des Ehrenamts.
8/9 Kosten für "weiße Ware" aus Regelsatz
Die Anschaffung neuer großer Haushaltsgeräte muss aus dem Regelsatz der Sozialhilfe bestritten werden, der Sozialhilfeträger muss keinen Zuschuss leisten, entschied das BSG (Urt. v. 19.05.2022, Az. B 8 SO 1/21 R). Diese Kosten seien nach einem Verschleiß des Altgeräts im Regelsatz des SGB XII enthalten. Bei der Ermittlung des Regelbedarfs seien die durchschnittlichen Ausgaben für Waschmaschinen, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschinen vollständig berücksichtigt worden.
Die Gewährung eines Zuschusses für die Anschaffung von Haushaltsgeräten sei gesetzlich nur bei einer Erstausstattung vorgesehen, so der 8. Senat. Im Fall der Ersatzbeschaffung seien hingegen aus dem Regelsatz Ansparungen vorzunehmen, ohne dass darin ein Verstoß gegen Verfassungsrecht zu sehen ist.
9/9 Kinderzuschlag nur für erwerbsfähige Eltern
Wer nicht erwerbsfähig ist, kann auch keinen Kinderzuschlag bekommen. Denn den Zuschlag könne nur beziehen, wer hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist. Das wiederum setze voraus, dass die antragstellende Person erwerbsfähig ist, entschied der 7. Senat (Urt. v. 13.07.2022, Az. B 7/14 KG 1/21 R).
Den Kinderzuschlag können Eltern erhalten, die zwar genug für sich selbst verdienen, das Einkommen aber nicht oder nur knapp für ihre gesamte Familie reicht. Voraussetzung ist aber, dass ein Familienmitglied hilfebedürftig im Sinne des SGB II ist, und das SGB II setzt wiederum die Erwerbsfähigkeit voraus. Bei den klagenden Eheleuten war dies gerade nicht gegeben, Ihr Leistungsvermögen war zeitlich auf unter drei Stunden täglich begrenzt. Und damit, entschied das BSG, konnten sie auch nicht hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein.
Sollte man kennen: Neun wichtige BSG-Entscheidungen aus 2022 . In: Legal Tribune Online, 03.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50573/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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