Bislang setzte das Europarecht keine klaren Vorgaben in Sachen Netzneutralität. Mit dem Verordnungsvorschlag der Kommission vom 11. September 2013 soll sich das nun ändern. Doch der Entwurf könnte mehr Probleme aufwerfen, als er zu lösen verspricht, meint Vyacheslav Bortnikov.
Lange Zeit war das Internet ein digitales Refugium der absoluten Gleichheit. Anders als in klassischen Medien wie Fernsehen, Zeitung oder Radio, konnte und kann dort jedermann zu jeder Zeit seine Meinung in praktisch jeder Form kundtun. In einem Punkt gerät das egalitäre Prinzip des Netzes in jüngerer Vergangenheit jedoch ins Wanken.
Der heutige Stand der Technik ermöglicht es Netzbetreibern, verschiedene Datenpakete unterschiedlich zu behandeln. Dies erlaubt es Diensteanbietern, eine bevorzugte Durchleitung ihrer digitalen Angebote an die Nutzer zu erreichen – gegen einen entsprechenden Aufpreis, versteht sich.
Ein solches Vorgehen bedeutet indes eine Abkehr vom Grundsatz der Netzneutralität. Dieser beschreibt die herkömmliche Funktionsweise des Internet, wonach sämtliche Daten – egal ob private E-Mail, Unternehmenswebseite oder YouTube Video – nach den "besten Möglichkeiten" (Best-Effort) des Netzbetreibrs, also gleich behandelt werden. Kritiker fürchten nun die Entstehung eines Zwei-Klassen-Internets, in dem zahlkräftige Anbieter ihre Inhalte in Windeseile an den Mann bringen können, wohingegen andere Angebote nur träge oder gar überhaupt nicht laden.
Gesetzliche Regulierung erforderlich?
Kernpunkt der juristischen Debatte ist somit die Frage, ob und in welchem Umfang es Netzbetreibern erlaubt sein soll, vom herkömmlichen Best-Effort-Prinzip abzuweichen, manche Daten also bewusst besser zu behandeln als andere. Die dazu vertretenen Meinungen lassen sich grob in vier Gruppen einteilen:
Die einen setzen sich für die strenge Netzneutralität im Sinne einer völligen Gleichbehandlung aller Datenpakete ein. Die anderen werben dafür, auf die Selbstregulierung des Internets zu vertrauen und auf staatliche Vorschriften zur Netzneutralität zu verzichten. Ein Mittelweg wird teilweise in der "relativen Netzneutralität", also der Gleichbehandlung aller zu einer Service-Klasse gehörenden Datenpakete, gesehen. Schließlich wird auch eine fallgruppenspezifische Betrachtung präferiert.
Ansatz der EU-Kommission
Die Lösung der EU-Kommission lässt sich keinem der vorgenannten Meinungslager eindeutig zuordnen.
Der in Art. 23 Abs. 5 S. 1 des Verordnungsentwurfs zum Vorschein kommende Ansatz tendiert in Richtung einer relativen Netzneutralität. Nach dieser Bestimmung dürfen Anbieter von Internetzugangsdiensten "innerhalb vertraglich vereinbarter Datenvolumina oder –geschwindigkeiten" grundsätzlich keine Blockierung, Verlangsamung, Verschlechterung oder Diskriminierung gegenüber bestimmten Inhalten, Anwendungen oder Diensten oder bestimmten Klassen davon vornehmen. Ungleichbehandlungen zwischen verschiedenen Service-Klassen – etwa zwischen Anschlüssen mit verschiedenen Downloadgeschwindigkeiten – steht die Vorschrift allerdings nicht im Wege.
Im Übrigen setzt die Kommission offenbar auf die selbstregulativen Kräfte des Marktes. Außer durch Vorschriften über Transparenz- (Art. 25) und Informationspflichten (Art. 26) sowie über Vertragsbeendigung (Art. 28) setzt die Verordnung der Kreativität bei der Gestaltung neuer Geschäftsmodelle keine Grenzen.
Eigene Regelung für Spezialdienste
So folgt aus Art. 23 Abs. 1 S. 2, dass – in Deutschland allerdings jetzt schon übliche – datenvolumen- und geschwindigkeitsabhängige Tarife zwischen Endnutzern und Anbietern von Internetzugangsdiensten möglich sein sollen.
Endnutzer können außerdem gemäß Art. 23 Abs. 2 S. 1 Spezialdienste mit höherer Dienstqualität buchen. Vom Begriff der "Spezialdienste" (vgl. Art. 2 Abs. 15) dürften alle Kommunikationsdienste mit gesicherter Dienstqualität und Plattformen in geschlossenen Netzen, wie zum Beispiel Telekom Entertain oder Maxdome, erfasst sein.
Um Endnutzern Spezialdienste in der vereinbarten Qualität liefern zu können, soll es den Anbietern von Inhalten, Anwendungen und Diensten nach dem Vorschlag der Kommission erlaubt sein, mit Netzbetreibern entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Die Bereitstellung von Spezialdiensten darf indes nach Art. 23 Abs. 2 S. 3 nicht dazu führen, dass die allgemeine Qualität von Internetzugangsdiensten in wiederholter oder ständiger Weise beeinträchtigt wird. Das bedeutet freilich im Umkehrschluss, dass eine Beeinträchtigung unterhalb dieses Niveaus durchaus erlaubt ist – mit aller unweigerlich folgender Rechtsunsicherheit bei der Auslegung der Begriffe "wiederholt oder ständig".
2/2: Verzerrung des publizistischen Wettbewerbs
Die großzügige Haltung der Kommission gegenüber Geschäftsmodellen im Internet erscheint vor dem Hintergrund ihres Ziels der Vollendung des Binnenmarktes durch die Einführung unionsweiter Dienste plausibel. Endnutzer sollen in die Lage versetzt werden, Dienstleistungen von hoher Qualität zu nutzen und das beste auf dem Markt erhältliche, ihren jeweiligen Präferenzen entsprechende Angebot zu wählen.
Aus Sicht der durch Art. 11 Abs. 2 der Grundrechtecharta (GRCh) und Art. 10 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützten Meinungsvielfalt sieht das Ganze aber völlig anders aus. Das in diesen Vorschriften angelegte Gebot der kommunikativen Chancengleichheit verlangt, dass Verbreitungschancen von Inhalte-Anbietern nicht durch technische oder wirtschaftliche, sondern möglichst nur durch kommunikationsbezogene Charakteristika beeinflusst werden.
Absprachen zwischen Inhalte-Anbietern und Netzbetreibern hinsichtlich der Dienstqualität lassen sich damit schwerlich vereinbaren. Denn sie versprechen großen finanzstarken Inhalte-Anbietern eine verbesserte Position im Kampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer. Publizistische Bemühungen kleiner, aufstrebender oder nichtkommerzieller Inhalte-Anbieter werden hingegen durch die Finanzkraft der Konkurrenz stark relativiert. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Priorisierung der Spezialdienste die Qualität der Übertragung der nichtprivilegierten Angebote beeinträchtigt. Die damit einhergehende Verzerrung des publizistischen Wettbewerbs ist der Meinungsvielfalt abträglich und steht der Legalisierung solcher Geschäftsmodelle entgegen.
Finanzierungsbedarf der Netzbetreiber kann auch anderweitig gedeckt werden
Ein Verbot der Priorisierung bestimmter Inhalte-Angebote ist Netzbetreibern auch zuzumuten. Ihrem Interesse an der Refinanzierung der in den Ausbau der Netze bereits investierten oder noch zu investierenden Kosten kann etwa durch eine volumenabhängige Tarifierung großer kommerzieller Inhalte-Anbieter hinreichend Rechnung getragen werden.
Da der Schutz der Meinungsvielfalt den Mitgliedstaaten obliegt, stellt der Verordnungsentwurf der Kommission sie nun vor das Problem, wie sie ihren – insbesondere gegebenenfalls nationalverfassungsrechtlichen – Schutzauftrag erfüllen sollen. Etwaige nationale Verbote der Priorisierung bestimmter Inhalte-Anbieter würden dem Regelungskonzept der Verordnung widersprechen. Sollte die Verordnung also in der jetzigen Form in Kraft treten, wären die Mitgliedstaaten aufgrund des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts daran gehindert, entsprechende Verbotsregelungen zu erlassen und anzuwenden.
In diesem Fall dürften die Mitgliedstaaten schutzrechtlich gehalten sein, den Weg einer Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) unter Berufung auf Art. 11 Abs. 2 GRCh und Art. 10 Abs. 1 EMRK zu beschreiten. Allemal vorzugswürdig erscheint da eine Nachbesserung vor Inkrafttreten des Entwurfes.
Der Autor Dr. Vyacheslav Bortnikov ist wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität zu Köln und Rechtsreferendar im Landgerichtsbezirk Köln. Er hat zum Thema "Netzneutralität und Bedingungen kommunikativer Selbstbestimmung" promoviert.
Dr. Vyacheslav Bortnikov, Regelung der Netzneutralität durch EU-Verordnung: Ein Stolperstein für die Meinungsvielfalt . In: Legal Tribune Online, 18.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9577/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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