Nach IStGH-Haftbefehlen: Muss Deut­sch­land Waf­fen­lie­fe­rungen an Israel ein­s­tellen?

von Dr. Max Kolter

28.11.2024

Ob Benjamin Netanjahu auf deutschem Boden die Festnahme droht, ist hypothetisch. Nicht dagegen die Frage, ob die Bundesregierung weiter Waffenexporte nach Israel genehmigen darf. Nötigen die vom IStGH bejahten Verdachtsmomente zum Embargo?

Unter Völkerrechtler:innen galt als wahrscheinlich, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) die Haftbefehle gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu, Ex-Verteidigungsminister Joaw Galant und Hamas-Führer Mohammed Deif erlassen würde. Die Bundesregierung dagegen wirkte von der Meldung vom Donnerstag überrumpelt: Was tut man jetzt? Verhaftet man – falls er kommt –, den Premierminister eines Staates, dessen Sicherheit man erst zum "Teil der Staatsräson" und später zu der deutschen Staatsräson erklärt hat? Oder ignoriert man den IStGH, den man selbst mit aufgebaut hat und maßgeblich unterstützt?

Wie die Bundesregierung dieses Dilemma auflösen will, hat sie offenbar in den sechs Monaten zwischen Haftbefehlsantrag und -Erlass nicht klären können. Und es ist auch nach einer am Freitag veröffentlichten Erklärung von Regierungssprecher Steffen Hebestreit und mittlerweile drei Runden der Regierungspressekonferenz offen. "Die innerstaatlichen Schritte werden wir gewissenhaft prüfen", hieß es in der Sprechererklärung. Hebestreit ließ sich am Freitag zu der Aussage "hinreißen", ihm falle schwer sich vorzustellen, "dass wir auf dieser Grundlage Verhaftungen in Deutschland durchführen". Ein Nein zur Verhaftung aus diplomatischen Gründen wäre denkbar. Man kann auch – wie die französische Regierung am Mittwoch – rechtliche Gründe wie die Immunität anführen, deutsche Staats- und Völkerrechtler lehnen diese aber überwiegend ab. Das Signal an andere Vertragsstaaten und künftige Bundesregierungen ist in jedem Fall fatal. Das Ansehen des IStGH und des Völkerstrafrechts an sich steht auf dem Spiel, schreiben die Völkerrechtsprofessor:innen Aziz Epik und Julia Geneuss auf LTO.

Unmittelbare praktische Relevanz hat die Debatte über eine mögliche Verhaftung nur, wenn Netanjahu oder Galant zeitnah nach Deutschland kommen. Deshalb ist sie wohl, wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) es nannte, "hypothetisch". Zumal Israel aktuell beim IStGH noch versucht, den Haftbefehl aufheben oder seine Vollstreckung aufschieben zu lassen. Rechtliche Auswirkungen kann der IStGH-Beschluss aber auf die Genehmigung von Waffenlieferungen an Israel haben. Macht er diese nun (endgültig) unzulässig?

IStGH-Beschluss ein "weiteres Puzzleteil"

Regierungssprecher Hebestreit blockte eine dahingehende Frage auf der Regierungspressekonferenz am Freitag ab: "Waffenlieferungen nach Israel unterliegen immer einer Einzelfallprüfung – und da bleibt es auch jetzt dabei." Das Auswärtige Amt verwies auf LTO-Anfrage nur hierauf. Das bei der Genehmigung von Waffenexporten federführende Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) ließ eine Anfrage vom Donnerstag unbeantwortet. Kein Stopp von Waffenlieferungen also – es bleibt bei der Entscheidung von Fall zu Fall. Aber kann diese angesichts der klaren Worte des IStGH noch positiv zugunsten der Zulässigkeit von Waffen(teilen) ausfallen, die den israelischen Streitkräften in Gaza zur Verfügung stehen? Muss der Beschluss nicht zu einem inoffiziellen Embargo führen?

"Die Entscheidung ist nicht unbedingt ein Game Changer. Aber sie macht es für die Bundesregierung doch schwieriger zu argumentieren, dass die Genehmigung von Waffenlieferungen zum Einsatz in Gaza zulässig ist", sagt Stefan Talmon, Völkerrechtsprofessor an der Uni Bonn. Zwar habe es zuvor schon Berichte der UN und von NGOs gegeben, dass in Gaza eine Hungersnot droht. Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) habe im Verfahren Südafrika gegen Israel immer wieder auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts gedrungen. "Das sind alles Elemente, die in die Bewertung einfließen müssen. Der Beschluss des IStGH ist hier ein weiteres Puzzleteil", so Talmon gegenüber LTO.

Janina Dill, Professorin für Globale Sicherheit in Oxford, wird noch deutlicher. Dass Deutschland durch die Genehmigung von Waffenexporten an Israel gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoße, "hätte eigentlich schon länger klar sein sollen", so Dill gegenüber LTO. "Aber der Haftbefehl vor allem gegen Netanjahu, der ja weiterhin das Kriegsgeschehen in Gaza lenkt, macht dies noch einmal deutlicher."

Ähnlich wie Talmon wertet Rechtsprofessor Kai Ambos die Haftbefehle als einen "weiteren Baustein". "Sie verstärken die Bedenken bezüglich Waffenlieferungen mit Blick auf den völkerrechtlichen Maßstab des 'overriding risk'". Damit nimmt der Göttinger Straf- und Völkerrechtler Bezug auf Art. 7 Abs. 1 und 3 des Vertrags über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty, ATT).

Schon das Risiko schwerwiegender Völkerrechtsverletzungen genügt

Demnach dürfen Waffenexporte nicht genehmigt werden, wenn der Staat ein überwiegendes Risiko ("overriding risk") sieht, dass die Waffen eingesetzt werden, um eine schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts zu begehen oder zu ermöglichen.

Wenn also Waffenlieferungen bereits bei einem hohen Risiko von Völkerrechtsbrüchen unzulässig sind, wäre der zutreffende Einwand, dass es sich bei den IStGH-Haftbefehlen nicht um Schuldsprüche handelt, zu einfach. Der IStGH sieht vernünftige Gründe für die Annahme ("reasonable grounds to believe"), dass Netanjahu und Galant für schwerste Verbrechen in Gaza verantwortlich sind. Die Vorwürfe hat LTO bereits ausführlich dargestellt: Zentral ist das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Aushungerns der Bevölkerung. Den palästinensischen Zivilist:innen in Gaza seien überlebensnotwendige Nahrungsmittel, Wasser, Elektrizität, Treibstoff und Medizin vorsätzlich vorenthalten worden. Das hätte in kalkulierter Weise zum Tod vieler geführt. Hinreichende Anhaltspunkte für eine "Ausrottung" sah die Kammer zwar nicht, wohl aber für andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie vorsätzliche Tötungen und Verfolgung. 

Dabei bejahte die Kammer auch das dafür notwendige Kriterium, dass die mutmaßlichen Verbrechen im Rahmen eines "ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung von Gaza" begangen wurden. Auch sah der IStGH "vernünftige Gründe", dass diese Taten nicht nur im Untersuchungszeitraum stattfanden, sondern immer noch Teil der israelischen Kriegsführung sind.

"Nur" Tötung durch Unterlassen?

Diese Delikte basieren vorwiegend auf dem Vorwurf, nicht genügend Hilfe zu leisten. Der Waffeneinsatz wird dagegen nicht explizit beanstandet. Und nach Art. 7 Abs. 1 und 3 ATT sind Waffenexporte nur unzulässig, wenn das Risiko besteht, dass die Waffen bei "Begehung oder Ermöglichung" von Völkerrechtsbrüchen eingesetzt werden. Könnte man also sagen, der IStGH werfe Netanjahu und Galant "nur" ein Töten und Aushungern durch Unterlassen vor, während es für die Zulässigkeit von Waffenlieferungen um ein aktives militärisches Tun geht?

Das verneinen Dill, Ambos und Talmon klar. "Die verschiedenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten auch aktive Tatelemente", sagt Dill. Da der mit Waffen geführte Kampf gegen die Hamas die Zivilbevölkerung erst in die Notlage bringt und Evakuierungen mit Waffen durchgesetzt werden, Hilfstransporte mit Waffen kontrolliert, durchgelassen oder aufgehalten werden, lassen sich auch die vom IStGH beanstandeten Handlungen womöglich unter ein "Ermöglichen" von Völkerrechtsbrüchen subsumieren. Zudem weisen die drei Völkerrechtler darauf hin, dass der IStGH einen Verdacht nicht nur des Aushungerns und der vorsätzlichen Tötung, sondern auch – wenn auch nur in zwei Fällen – das Kriegsverbrechen eines absichtlichen direkten Angriffs auf die Zivilbevölkerung bejaht hat. "Wie soll das ohne Waffen gehen?", fragt Talmon.

Hinzu kommt, dass Deutschland durch seine diplomatische und materiale Unterstützung der israelischen Kriegsführung auch andere eigene völkerrechtliche Pflichten verletzen könnte. Das ist vor allem der gemeinsame Art. 1 der Genfer Konventionen. Der statuiert die Pflicht der Staaten, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts auch durch andere Staaten durchzusetzen. Daraus folgt laut Dill: "Waffenlieferungen müssen konditioniert sein, auch wenn die Völkerrechtsverstöße eventuell nicht mit diesen Waffen begangen werden. Das ist der Unterschied zwischen dem Arms Trade Treaty, wo es um die Nutzung von Waffen geht, und dem Gemeinsamen Artikel 1 der Genfer Konventionen, wo es um die Einhaltung des Humanitären Völkerrechts an sich geht."

Wie weit die Verpflichtung geht, andere Staaten von der Begehung von Völkerrechtsverletzungen abzuhalten, kann im Einzelnen jedoch fraglich sein. "Waffen an Israel zu liefern, ist jedenfalls kein klarer Verstoß gegen den gemeinsamen Artikel 1, weil Israel grundsätzlich in Selbstverteidigung handelt", meint Talmon. Denn bei einer solchen Selbstverteidigung dürfen anderen UN-Staaten dem Angegriffenen auch mit Waffengewalt grundsätzlich helfen. Insofern kollidieren hier zwei grundlegende völkerrechtliche Wertungen. Einig sind sich die Expert:innen aber darin, dass der Beschluss des IStGH ein weiteres und wichtiges Element bildet, die Zulässigkeit von Waffenlieferungen zu bewerten. Ignorieren kann man ihn weder im Bundessicherheitsrat (BSR) noch im Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA).

Genehmigungen wohl nicht gerichtlich überprüfbar

Das sind die beiden Stellen, die maßgeblich über Rüstungsexporte entscheiden. Der BSR entscheidet geheim unter Beteiligung des Bundeskanzlers, des BMWK und anderer Ministerien über Kriegswaffen im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes (KrWaffKontrG) wie vollautomatische Kleinwaffen, Handgranaten, Panzer und Kampfflugzeuge. Formal genehmigt werden die Exporte vom BMWK. Sonstige Rüstungsgüter wie Radar- und Funkgeräte, Fahrzeuge, aber auch bestimmte Kleinwaffen, Munition, Torpedos und Bomben werden vom BAFA, das im Geschäftsbereich des BMWK liegt, auf Grundlage des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) genehmigt.

Das tatsächliche Volumen der Exporte schwankt seit dem 7. Oktober 2023 stark. Im kompletten Jahr 2023 hatte die Ampel Rüstungslieferungen für 326,5 Millionen Euro an Israel genehmigt, darunter Kriegswaffen für 20,1 Millionen. Der größte Teil der Exporterlaubnisse ging auf die Zeit nach dem Überfall der Hamas auf Israel zurück. Schon in den Folgemonaten wurden die Exportgenehmigungen dann aber drastisch zurückgefahren. Im Jahr 2024 betrug das Volumen der Rüstungsexporte bis zum 13. Oktober 45,74 Millionen Euro. Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aber Mitte Oktober im Bundestag angekündigt hatte, wieder deutlich mehr Waffen an Israel zu liefern, stieg das Volumen deutlich an. Auf nunmehr 131 Millionen Euro im laufenden Jahr, wie sich aus einer aktuellen Antwort auf eine Kleine Anfrage der BSW-Abgeordneten Sevim Dagdelen ergibt, die der dpa vorliegt. Darunter sollen derzeit aber nur sonstige Rüstungsgüter sein, Kriegswaffen seien zuletzt im Februar bewilligt worden. 

Ob dieser Kurs nach dem IStGH-Beschluss wieder geändert wird? Offiziell machen will die Bundesregierung das jedenfalls nicht. Dabei ist ihr Spielraum zur Rechtfertigung weiterer Waffenexporte zumindest völkerrechtlich auf ein Minimum geschrumpft. 

Die lässige Haltung nach außen – alles wie gehabt – lässt sich womöglich damit erklären, dass das deutsche Verwaltungsrecht weder Betroffenen noch NGOs eine klare Möglichkeit einräumt, die Genehmigungsentscheidungen von BMWK und BAFA vor Gericht anzufechten. Die Verwaltungsgerichte (VG) in Berlin und Frankfurt am Main wiesen in diesem Jahr bereits Eilanträge mehrerer Palästinenser aus Gaza als unzulässig zurück. Im Berliner Fall wurde die Entscheidung durch das dortige Oberverwaltungsgericht bestätigt. Die Frage, ob Israel das Völkerrecht einhält, stellte sich den Gerichten dadurch gar nicht.

Das VG Frankfurt gestand der Bundesregierung bei der völkerrechtlichen Prüfung von Rüstungsexporten einen denkbar weiten Einschätzungsspielraum zu. Das lag dort auch an der Rechtsgrundlage. Im Gegensatz zum KrWaffKontrG bildet das AWG die völkerrechtlichen Einschränkungen für Waffenexporte nicht ab. Exporte von Kriegswaffen dürfen nach § 6 Abs. 3 Nr. 2 KrWaffKontrG nicht genehmigt werden, wenn "Grund zu der Annahme besteht, dass die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde". Das VG Frankfurt hob in seiner Entscheidung hervor, wie "robust" das deutsche Rüstungskontrollsystem sei, obwohl die intern angewandten Kriterien gar nicht – auch nicht dem VG – bekannt sind.

Auch etwaiges Völkermord-Risiko macht Waffenlieferungen unzulässig

Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) hatte sich von dem deutschen Kontrollverfahren beeindrucken lassen, als er Ende April einen Eilantrag Nicaraguas ablehnte. In dem dazugehörigen Hauptsacheverfahren beschuldigt Nicaragua Deutschland u.a. der Beihilfe zum Genozid. Ob Israel einen solchen begeht, ist allerdings noch ungeklärt. Dieser Vorwurf war von Anfang an nicht Teil des Haftbefehlsantrags beim IStGH, obwohl es sich dabei auch um einen individuellen Straftatbestand handelt. Offenbar sah IStGH-Ankläger Karim Khan keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Israel mit der für Völkermord notwendigen Absicht vorgeht, eine Volksgruppe "als solche ganz oder teilweise zu zerstören".

Genau diesen Kernvorwurf erhebt Südafrika gegen Israel vor dem IGH. Im Eilverfahren hat der IGH Israel zwar schon dreimal dazu verpflichtet, Sofortmaßnahmen zu erlassen, um sicherzustellen, dass in Gaza kein Völkermord passiert. Die Offensive in der südlichen Gaza-Grenzstadt Rafah hatte das Gericht besonders deutlich kritisiert. Im Tenor blieben die Entscheidungen aber jeweils zurückhaltend – wohl damit die konkrete Formulierung eine starke Mehrheit der IGH-Richter:innen findet. Denn die sind sich nicht darüber einig, ob Israel wirklich mit genozidaler Absicht handelt. Dazu hat sich der IGH bislang auch nicht geäußert.

Allerdings sind "Handlungen, die das Risiko eines Völkermords in sich tragen, […] sehr wahrscheinlich dennoch rechtswidrig und möglicherweise sogar als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar", sagte Janina Dill im Interview mit dem Verfassungsblog. Und das auch dann, "wenn sie später nicht als [Völkermord] eingestuft werden (etwa von einem Strafgericht)". Stefan Talmon weist gegenüber LTO darauf hin, dass es für die Zulässigkeit von Waffenlieferungen nicht darauf ankomme, dass der IGH einen Völkermord feststellt – "das schlimmste Verbrechen, das man sich vorstellen kann". 

Damit sind auch die IGH-Anordnungen wichtige Puzzleteile in der Gesamtbewertung des Risikos schwerwiegender Völkerrechtsverletzungen, das Waffenexporte unzulässig machen würde. Viele weitere Teile fehlen nach den IStGH-Haftbefehlen nicht mehr. Wenn überhaupt.

Zitiervorschlag

Nach IStGH-Haftbefehlen: . In: Legal Tribune Online, 28.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55977 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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