Verwaltungsbehörden ächzen unter zu viel Bürokratie. Laut NKR-Vorsitzendem Lutz Goebel liegt das auch an schlecht gemachten Gesetzen. Diese seien nicht nur oft zu kompliziert, sondern stellten Bürger und Unternehmen unter Generalverdacht.
LTO: Der unabhängige Nationale Normenkontrollrat (NKR) warnt vor einem Kollaps der Verwaltung in Deutschland. Ihre Leistungsfähigkeit sei gefährdet, die Demokratie gerate ins Wanken. Es brauche jetzt eine "bündelungsorientierte Staats- und Verwaltungsreform". Was darf man sich darunter vorstellen?
Lutz Goebel: Das Aufgabengeflecht für die Städte und Gemeinden in Deutschland ist in den letzten Jahren exorbitant angewachsen. Und zwar in allen Kommunen – in der Millionenstadt aber eben auch in der kleinen Provinz-Gemeinde. Es macht allerdings überhaupt keinen Sinn, dass alle Verwaltungsleistungen von jeder Kommune einzeln erbracht werden.
In unserem neuesten Gutachten "Bündelung im Föderalstaat - zeitgemäße Aufgabenorganisation für eine leistungsfähige und resiliente Verwaltung" zeigen wir anhand von zwei konkreten Verwaltungsleistungen – Beantragung einer Fahrerlaubnis und Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen sowie der Einkommensprüfung als Teil einer ganzen Reihe von Verwaltungsleistungen – auf, wie einzelne Prozessschritte stärker zusammengefasst werden können. Denn es muss überall gebündelt und vereinfacht werden, wo es möglich ist.
Eine Verwaltungsreform, wie sie ihnen vorschwebt, erfordert ja, dass alle relevanten Player zusammenkommen und sich einigen. Das kann lange dauern.
Es geht darum, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in einen handlungsfähigen Staat zurückzugewinnen bzw. dieses nicht weiter erodieren zu lassen.
Die kommende Bundesregierung sollte daher schnell handeln und ein interdisziplinäres Team aufstellen, das die Umsetzung zentraler und dezentraler Initiativen zur Bündelung des Aufgabenvollzugs initiiert und begleitet. Reformimpulse und -projekte zur Bündelung können dabei nicht nur vom Bund, sondern auch von Ländern und Kommunen ausgehen.
"Es geht nicht um die große Staatsreform"
Inwieweit braucht es für eine solche Reform Gesetzesänderungen oder sogar eine Änderung des Grundgesetzes (GG)?
Uns geht es nicht gleich um die große Staatsreform, vielmehr sollte die Bündelung von Verwaltungsaufgaben schrittweise erfolgen. Genau deshalb sind unsere Vorschläge bereits jetzt praktisch umsetzbar. Das hat auch eine erste rechtswissenschaftliche Beurteilung bestätigt.
Denkbar wäre etwa die Aufnahme eines allgemeinen Kooperationsgebots ins Grundgesetz. Das könnte als Gegengewicht zu den scharf formulierten Trennungsgrundsätzen der Art. 30 und 83 GG eine progressive, kooperationsfreundliche Verfassungsinterpretation stützen und betonen, dass eine wirksame, kooperative und effiziente Verwaltung zielführend ist.
Die verfassungsrechtliche Dimension unserer Vorschläge wird derzeit in einem Folgegutachten weiter untersucht. Im April rechnen wir mit dem Ergebnis.
"Nicht noch mehr Berichtspflichten, Kontrollen und Beauftragte"
Sie haben kürzlich kritisiert, man müsse endlich weg von dem kräftezehrenden typisch deutschen Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit - also einer Gesetzgebung, die alle Situationen und Lebenslagen berücksichtigt.
Deutschland muss "abspecken". Wir können uns nicht noch mehr Berichtspflichten, Kontrollen und Beauftragte leisten. Rechtstechnisch gelingen kann dies durch Pauschalierungen, die Einführung von Bagatellgrenzen und die Einführung von stichprobenartigen statt flächendeckender Kontrollen.
Unsere Gesetze sind aktuell vielfach Ausdruck von einem Misstrauen gegenüber der Wirtschaft und den Bürgerinnen und Bürgern. Missbrauch und Betrug finden wir aber vielleicht bei drei Prozent der Betroffenen. Dafür sollten wir die übrigen 97 Prozent aber nicht mit überbordender Regulierung belegen.
"Kleinteilige und schwer verständliche Gesetze"
Differenzierte Gesetzeslösungen, die auch Schlupflöcher und Missbrauch im Blick haben, sind für Sie dann nicht gut, wenn sie die Wirtschaft belasten?
Die Überregulierung in Deutschland beeinträchtigt die Wettbewerbs- und Wachstumsfähigkeit der Unternehmen, indem sie Investitionsmöglichkeiten in Forschung, Entwicklung und Produktionskapazitäten limitiert. Meine Kritik betrifft aber nicht nur die unverhältnismäßige Belastung von Unternehmen, sondern auch die eingangs beschriebene Überforderung der Mitarbeitenden in den Kommunalverwaltungen, die unter kleinteiligen und schwer verständlichen Gesetzen leiden.
Wie können Gesetze besser werden?
Bei der Ausarbeitung von Gesetzen muss mitgedacht werden, wie sie am Ende möglichst bürokratiearm umgesetzt werden können. Geht es z.B. um eine baurechtliche Änderung müssen nicht nur Juristen mit an den Tisch, sondern auch Vertreter der Bauämter, Planer und Architekten.
Heute werden auf Bundeseben Gesetze gemacht, ohne vorher zu fragen, wer vom Vollzug eigentlich alles betroffen ist. Eine Studienreihe im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen hat gezeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich schlecht aufgestellt ist. Unsere Gesetze sind oft zu kompliziert und verursachen in der Umsetzung hohe Kosten. Deshalb sind wir z.B. dafür, dass bei der Umsetzung von EU-Recht immer auch die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mitgedacht wird.
"EU-Richtlinien strenger als bisher 1:1 umsetzen"
Der NKR fordert, dass sogenannte Gold-Plating abzustellen. Gold-Plating - das Vergolden - bezeichnet ursprünglich das Anbringen einer dünnen Goldschicht auf andere Materialien. Die Übertragung des Begriffs auf die Gesetzgebung bringt zum Ausdruck, dass eine zusätzliche Regelungsschicht aufgetragen wird, die über die EU-Vorgabe hinausgeht.
Deutschland hat in der Vergangenheit allzu oft bei der Umsetzung von EU-Recht noch eine Schippe draufgelegt und Gesetze unnötig verschärft. Die Wachstumsinitiative der Ampel sieht eine 1:1 Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht vor, auch im Bestandsrecht sollen überschießenden Umsetzungen gestrichen werden. Das ist gut, aber nicht ausreichend.
Der NKR empfiehlt eine noch striktere Auslegung der 1:1-Umsetzung als bisher. Denn nach derzeitigem Verständnis stellt auch noch das völlige Ausreizen von in EU-Richtlinien vorgesehenen Vorgaben eine 1:1-Umsetzung dar. Aus Sicht des NKR sollte Deutschland die am wenigsten belastende Umsetzungsoption wählen.
Gute Gesetze: "Alle Ressorts müssen geschult werden"
Um gute Gesetze zu schaffen, hat die Ampel das Zentrum für Legistik ins Leben gerufen, das Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesregierung zeitgemäße Methoden und Werkzeuge für das praktische Gesetzgebungshandwerk vermitteln soll.
Das an das Bundesjustizministerium (BMJ) angedockte Zentrum der Legistik wird vom NKR bereits jetzt mit Personalressourcen unterstützt. Es hat seine Arbeit aufgenommen, auch haben erste Veranstaltungen bereits stattgefunden.
Da für die Bundesregierung jedoch leider die vorläufige Haushaltsführung gilt, konnte der Regelbetrieb bisher nicht in vollem Umfang aufgenommen werden. Bislang werden außerdem nur Mitarbeitende im BMJ geschult. Die kommende Koalition sollte sicherstellen, dass alle Ressorts der Bundesregierung das entsprechende Know-How für eine vernünftige Gesetzesausarbeitung bekommen.
Vetorecht für den Kontrollrat?
Auftrag Ihres Gremiums ist die Prüfung, welche Kosten neue Gesetze verursachen, ob praxistauglichere Alternativen bestehen und wie eine gute digitale Ausführung ("Digitalcheck") erreicht werden kann. Eine Empfehlung des NKR, wie ein Gesetz verbessert werden kann, muss aber vom Gesetzgeber nicht beachtet werden. Sie fordern daher eine Art Vetorecht.
Tatsächlich können wir derzeit nicht verhindern, dass Politiker schlecht gemachte und bürokratische Gesetze durchbringen. Unser Schwestergremium auf EU-Ebene, das Regulatory Scrutiny Board (RSB), verfügt über ein aufschiebendes Vetorecht. Beanstandet das RSB ein Gesetz, bei dem Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis stehen, muss die Kommission grundsätzlich nachbessern.
Ob dieser Mechanismus auch für Deutschland sinnvoll wäre, müssen aber andere bewerten. Wichtig ist vielmehr, dass die in der Geschäftsordnung der Bundesregierung festgehaltenen Kriterien für gute Gesetzesvorbereitung von allen eingehalten werden. Unser Ziel ist, dass man sich in den Ministerien mit den Anregungen und Bedenken des NKR noch ernsthafter als bisher befasst.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Lutz Goebel (70) ist seit 2022 Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats (NKR).
Der NKR ist ein zehnköpfiges, unabhängiges Expertengremium, das die Bundesregierung berät. Er setzt sich für weniger Bürokratie, bessere Gesetze und eine digitale Verwaltung ein. Spätestens zu Beginn der Ressortabstimmung müssen Regelungsentwürfe dem NKR zur Prüfung zugeleitet werden. Dies ist im NKR-Gesetz und in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien verankert.
Die Ergebnisse seiner Prüfung fasst der NKR in einer Stellungnahme zusammen, die der Kabinettvorlage beigefügt wird und damit der Bundesregierung zur Beratung vorliegt. Die NKR-Stellungnahme wird Bestandteil der Drucksachen von Bundestag und Bundesrat und ab diesem Zeitpunkt öffentlich einsehbar.
Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats warnt: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56552 (abgerufen am: 17.03.2025 )
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