Der von Arbeitsministerin Andrea Nahles vorgestellte Entwurf greift eher minimal-invasiv in die Tarifautonomie ein – ein Angriff auf die Koalitionsfreiheit sieht anders aus, meint Hermann Reichold. Und doch würden expansionslustige Berufsgewerkschaften wie die GDL in ihre Schranken gewiesen. Ver.di rät er, sich schon mal gefechtsbereit zu machen.
Beim Deutschen Juristentag in Hannover Mitte September meinte sich die arbeitsrechtliche Abteilung nicht zur Tarifeinheit äußern zu dürfen – Ministerin Nahles in Berlin sollte nicht beeinflusst werden durch aufsässige Beschlüsse des DJT. Jetzt hat sie das Kaninchen aus dem Hut gezaubert. Der am Dienstag vorgestellte "Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit", der LTO vorliegt, bemüht sich um minimal-invasive Eingriffe in das Tarifvertragsgesetz, um Tarifkollisionen konkurrierender Gewerkschaften im Betrieb zugunsten der stärkeren Koalition aufzulösen.
In der Gesetzesbegründung wird der Vorrang autonomer Konfliktlösungen betont. Konkurrierende Gewerkschaften (wie z.B. die der Lokführer (GDL) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bei der Deutschen Bahn) sollten ihre Zuständigkeiten abstimmen oder Tarifgemeinschaften bilden.
Die katholische Ministerin legt Wert auf das Subsidiaritätsprinzip. Die geplante Regelung des § 4a Tarifvertragsgesetz (TVG) soll nur dann eingreifen, wenn sich Tarifkollisionen nicht anders vermeiden lassen. Eine nach dem Grundsatz der Tarifeinheit auflösungsbedürftige Tarifpluralität sieht der Entwurf nur vor, soweit sich die Geltungsbereiche verschiedener Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften im Betrieb überschneiden.
Nachzeichnung soll Rechteverkürzung der Kleinen überspielen
Geschieht das, gilt das Mehrheitsprinzip. Die stärkere Gewerkschaft muss im Zweifel in einem gerichtlichen Beschlussverfahren zum Beispiel mit Hilfe notarieller Erklärungen ihre Mitgliederdominanz nachweisen.
Den verfassungsrechtlichen Knackpunkt, die drastische Beschneidung der Koalitionsbetätigung kleiner Berufsgewerkschaften nämlich, versucht der Entwurf durch ein sogenanntes Nachzeichnungsrecht zu überspielen: Die verdrängte Gewerkschaft kann, soweit der Kollisionsbereich betroffen ist, einen inhaltsgleichen Tarifvertrag vom Arbeitgeber als "eigenen" Abschluss verlangen, so § 4a Abs. 3 des Entwurfs. So soll sie nicht endgültig aus der Arena der Tarifverhandlungen verdrängt werden.
Im Übrigen bleibt sie für andere Tarifinhalte zuständig. Zudem wird der weichenden Koalition ein Anhörungsrecht gegenüber dem Arbeitgeber eingeräumt. Fraglich ist nur, welcher Arbeitgeber sich dann noch mit den schwächeren Gewerkschaften ernsthaft auseinander setzt.
Auch ohne Regelung des Streikrechts: Ver.di sollte sich wappnen
Nahles vermeidet es aus gutem Grund, das Streikrecht als solches auch nur ansatzweise zu regeln. Einem Professorenentwurf, der es für den Bereich der Daseinsvorsorge regulieren wollte, erteilt die Arbeitsministerin eine brüske Absage. Eine trennscharfe Abgrenzung dieses Bereichs sei nicht möglich, zudem werde damit die Stärkung der Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie nicht erreicht, die dem Entwurf sehr am Herzen liege.
Wenn jetzt aber eine expansionslustige kleine Gewerkschaft wie zum Beispiel die Lokführertruppe GDL zu Streiks mit dem Ziel aufrufen würde, auch sonstiges Bahnpersonal wie zum Beispiel Zugbegleiter tarifieren zu wollen, wäre dies nach dem geplanten Tarifeinheitsgesetz vermutlich eine unverhältnismäßige Kampfmaßnahme: Die angestrebte Tarifierung wäre wegen der Dominanz der EVG insoweit unwirksam, Arbeitsgerichte würden ihrem entsprechenden Unterlassungsantrag wohl stattgeben.
Die Vorwirkungen des geplanten Gesetzes, das wohl erst im Sommer 2015 in Kraft treten dürfte, sind schon jetzt geeignet, gewisse Spartengewerkschaften zur Räson zu rufen. Praktisch relevant werden die geregelten Tarifkollisionen ohnehin nur im Dienstleistungs- und vor allem Verkehrssektor. Die Lufthansa wird aber dennoch weiterhin mit ihren rivalisierenden kleinen Berufsgewerkschaften leben und kämpfen müssen: Im Flugsektor gibt es keine dominierende DGB-Gewerkschaft als Verhandlungspartner.
In den großen Industrien Metall-Elektro und Chemie dominieren dagegen stabile Industriegewerkschaften, die der Entwurf aus dem Hause Nahles nicht tangiert. Einzig die heterogene Dienstleistungsgewerkschaft "ver.di" hat allen Grund, ihre Truppen zu sammeln und sich schon mal gefechtsbereit zu machen.
Der Autor Prof. Dr. Hermann Reichold ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Nahles' Gesetzentwurf: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13655 (abgerufen am: 03.12.2024 )
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