Ende September gelang drei Jugendlichen die Flucht aus einem Modellprojekt zur Wiedereingliederung von Straftätern in Dormagen. Der Justizminister von NRW stoppte den "Jugendstrafvollzug in freien Formen" daraufhin, der erst im August gestartet war. Ein politischer Schnellschuss, der kriminologischen Erkenntnissen zuwiderläuft, meinen Tobias Block und Alescha Lara Savinsky.
Aus der Flucht der Jugendlichen aus dem Pilotprojekt lassen sich keine Schlüsse über Sinn oder Unsinn des Jugendstrafvollzugs in freien Formen ziehen. Sehr wohl sollten aber die Ausgestaltung des Projekts und die Auswahl der Gefangenen überprüft werden.
Zu den größten Problemen des Jugendstrafvollzuges gehört das Spannungsverhältnis zwischen dem Vollzugsziel, die Jugendlichen zu befähigen, künftig ein Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung zu führen, und der Unterbringung in einem streng reglementierten Umfeld mit gleichzeitiger Vollversorgung. Soziale Verantwortung kann in einer totalen Institution wie dem Jugendstrafvollzug nur schwer erlernt werden. Den Gefangenen werden dafür nicht ausreichend Handlungs- und Entscheidungsspielräume gewährt.
Das fremdbestimmte Leben der Gefangenen führt meist außerdem dazu, dass sich eine so genannte Gefangenensubkultur entwickelt. Das heißt, die Häftlinge unterwerfen sich einer Ordnung, die deutlich von den offiziellen Regeln abweicht und Gewalt als statusbestimmendes Mittel definiert. Diesen Problemen sollen der offene Vollzug oder der Jugendstrafvollzug in freien Formen entgegenwirken.
Strafvollzug in Heimen oder Wohngemeinschaften
Der offene Vollzug, den es in allen Bundesländer gibt, darf nicht mit dem Jugendstrafvollzug in freien Formen gleichgesetzt werden. Letzteren kennen die meisten Landesgesetze entweder als besondere Lockerungsmaßnahme neben dem offenen Vollzug oder als eigenständige Vollzugsform.
Der offene Vollzug zeichnet sich gegenüber dem geschlossenen Vollzug durch verminderte oder fehlende bauliche und technische Vorkehrungen gegen eine Flucht aus. Die Jugendlichen bleiben dem Status nach zwar Strafgefangene. Der Vollzug findet aber außerhalb einer Haftanstalt in Einrichtungen der Jugendhilfe, also in Heimen oder in Wohngemeinschaften mit Hauseltern statt. Dahinter steht die Idee, Sicherung nicht durch Gitter und Mauern zu erreichen, sondern durch fachlich gut ausgebildetes Personal.
Praktisch durchgeführt wird der Vollzug in freien Formen bisher allerdings nur in zwei Projekten in Baden-Württemberg sowie in dem nun ausgesetzten Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen.
Vollzug in freien Formen kann Gefangene überfordern
Es ist grundsätzlich zu begrüßen, wenn versucht wird, den Vollzug der Jugendstrafe so frei wie möglich zu gestalten. Pädagogische Konzepte können so gegenüber dem "normalen Strafvollzug" flexibeler erarbeitet und ausgestaltet werden. Neue Erkenntnisse aus Pädagogik und Kriminologie können leichter berücksichtigt werden. So etwa die Feststellung, dass dem Lernprozess unter Gleichaltrigen, der so genannten Peer-Group, eine besondere Bedeutung zukommt. Die Jugendlichen können dort an alltäglichen Entscheidungen und der Entwicklung von Problemlösungen in einem gemeinsamen Kommunikationsprozess beteiligt werden, da das die soziale Verantwortung stärkt. Gleiches gilt für Kontakte zu Personen außerhalb der Einrichtung.
Eine Auswertung des baden-württembergischen Projektes "Chance" hat gezeigt, dass die Jugendlichen erkennbare Fortschritte erzielten, was ihr Kontaktverhalten, ihre Empathiefähigkeit und ihr Leistungsverhalten betrifft. Außerdem konnte festgestellt werden, dass Subkulturen sich in dieser freieren Vollzugsform viel weniger ausprägen konnten. Das wiederum bedeutet, dass der Vollzug in freien Formen auch als Schutzraum für schwächere Jugendstrafgefangene geeignet ist.
Für das Projekt "Chance" fielen die Rückfallquoten binnen eines Zeitraums von einem bis vier Jahren in Freiheit denn auch etwas besser aus als für den intern gelockerten oder offenen Jugendstrafvollzug. Allerdings muss man dabei beachten, dass die Datenbasis recht dünn ist und weitere Begleitfaktoren nicht berücksichtigt werden konnten.
Fluchtgefahr muss in Kauf genommen werden
Der Vollzug in freien Formen ist dennoch kein Allheilmittel, sondern kann nur Teil eines viel breiteren Angebots im Jugendstrafvollzug sein. So darf man nicht unterschätzen, dass eine freiere Ausgestaltung des Vollzuges die Jugendlichen in einzelnen Bereichen ungleich mehr belastet. Es gibt weniger Rückzugsmöglichkeiten und die Freizeit ist sehr engmaschig reguliert. Manch einen kann das Konzept auch aus persönlichen Gründen überfordern. Die Folge ist nach bisherigen Erfahrungen eine hohe Quote von bis zu 51 Prozent der Jugendlichen, die teils auf eigenen Wunsch aus einem Vollzug in freien Formen ausgenommen und in eine geschlossene Jugendvollzugsanstalt zurückverlegt wurden.
Die richtige Reaktion ist dann aber nicht die Einstellung des Projekts, sondern die Überarbeitung des Konzepts und der Auswahlkriterien. Letztlich müssen die Konzepte den Jugendlichen angepasst werden, und nicht die Jugendlichen den Konzepten. Diese Erkenntnis hat auch die wissenschaftliche Begleitforschung in Baden-Württemberg bestätigt, die größere Erfolge mit fortschreitender Dauer des Projekts feststellen konnte.
Jedenfalls ist es kein Fehler des Systems, wenn eine unrealistische Fluchtquote von Null verfehlt wird. Der Erfolg oder Misserfolg des Modells lässt sich nicht an einer solchen Quote messen. Vollzugslockerungen sind elementar, um Gefangene auf das Leben in Freiheit vorzubereiten. Die Fluchtgefahr muss dabei in Kauf genommen werden.
Der Autor Dr. Tobias Block ist Rechtsanwalt der White & Case LLP sowie Lehrbeauftragter der Universität Hamburg und ebenso wie die Autorin Alescha Lara Savinsky Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Hamburg.
Modellprojekt "Jugendstrafvollzug in freien Formen": . In: Legal Tribune Online, 08.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7258 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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