Die Wahlkampfforderung der SPD auf 15 Euro Mindestlohn hat Niederschlag im Koalitionsvertrag gefunden. Doch über die Auslegung und den Weg der Erhöhung besteht bereits heftiger Streit. Was sagt das Arbeitsrecht?
"Dementsprechend muss der Mindestlohn spätestens ab 2026 bei 15 Euro liegen", so las es sich im Wahlprogramm der SPD. In dem der CDU und CSU taucht das Thema Mindestlohn zwar immerhin auch auf, allerdings in Form einer Bekräftigung der Entscheidungsfindung durch eine unabhängige Mindestlohnkommission. Das Ergebnis der Verhandlungen der künftigen Regierungsparteien im 144-seitigen Koalitionsvertrag aus April 2025 ist zunächst ein allgemeines Bekenntnis zum gesetzlichen Mindestlohn, der einen Beitrag zu stärkerer Kaufkraft und stabiler Binnennachfrage in Deutschland leisten soll. Sodann wird die Handschrift beider Verhandlungspartner deutlich, wenn sich zwar einerseits zu einer "starken und unabhängigen Mindestlohnkommission" bekannt wird, es wenig später aber lautet, dass bei einer Berücksichtigung der Tarifentwicklung "ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar" ist.
Was genau hierunter zu verstehen ist, ist zwischen den künftigen Koalitionspartnern seit einigen Tagen umstritten, so dass sich in der Presse verschiedene Lesarten des Programms finden lassen: Während nach dpa-Meldungen Teile der SPD wie deren Generalsekretär Matthias Miersch mit einer gesetzlichen Regelung drohen, um das gewünschte Mindestlohnziel 2026 sicher zu erreichen, schließt dessen Konterpart aus der CDU Carsten Linnemann ein Eingreifen der Politik durch einen im Plenarsaal des Bundestags beschlossenen gesetzlich erhöhten Mindestlohn strikt aus. "Das wissen auch die Verhandler", so Generalsekretär Linnemann gegenüber der dpa.
Müßig wäre es nun, die Passage im Koalitionsvertrag mit den Methoden juristischer Auslegung daraufhin zu untersuchen, ob etwa nach Wortlaut, Sinn und Zweck oder historischem Verständnis angesichts der vorgenannten Wahlprogramme die eine oder andere Lesart richtig ist. Denn bekanntermaßen kommt Koalitionsverträgen keine rechtliche Verbindlichkeit zu und begründen die dort formulierten Inhalte, selbst im Falle konkreter oder unmissverständlicher Aussagen, für keinerlei Seite irgendwie geartete rechtliche Ansprüche. Angesichts der Schnelllebigkeit der Politik und der Änderung der Gesamtumstände müssten Juristen wohl andernfalls auch regelmäßig auf das zivilrechtliche Institut der Störung der Geschäftsgrundlage zurückgreifen, um Koalitionsverträge als "echte" juristische Verträge erhalten zu können. Und selbst wenn man den Koalitionsvertrag auslegte: Es lassen sich gute Argumente für beide Sichtweisen finden.
Derzeitige Ausgestaltung der Mindestlohnfestsetzung
Damit bleibt die Frage des Umgangs mit dem Mindestlohn vordergründig zunächst eine rein politische Frage, die in weiteren Verhandlungen der künftigen Koalitionspartner auszutragen ist. Grenzenlos sind die Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeiten der Politik indes nicht.
Das am 16. August2014 in Kraft getretene Mindestlohngesetz (MiLoG) sah anfangs einen gesetzlichen Mindestlohn von 8.50 Euro brutto vor. Dessen Anpassung und Änderung ist gesetzlich der Mindestlohnkommission (§ 4 MiLoG) vorbehalten, die aus je drei stimmberechtigten Mitgliedern der Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite sowie zwei rein beratenden Mitgliedern aus der Wissenschaft besteht und von einem Vorsitzenden geleitet wird, auf den sich beide Seiten grundsätzlich zu einigen haben, bevor die Bundesregierung einen Vorsitzenden bestellt. Diese Kommission entscheidet alle zwei Jahre über Anpassungen der Höhe des Mindestlohns (§ 9 Abs. 1 S. 2 MiLoG), wobei sich u.a. an der Tarifentwicklung zu orientieren ist.
Ein angemessener Mindestschutz der Arbeitnehmer soll gesichert werden, zudem sollen faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen ermöglicht und Beschäftigung nicht gefährdet werden (§ 9 Abs. 2 MiLoG). Der Beschluss der Mindestlohnkommission über eine Erhöhung oder eine Senkung – denkbar, wenngleich bislang nie relevant – des Mindestlohns ist von der Kommission zu begründen und kann von der Bundesregierung sodann durch Rechtsverordnung verbindlich gemacht werden (§ 11 Abs. 1 MiLoG). Der Regierung soll zwar nach dem Willen des Gesetzgebers keine Änderungskompetenz zukommen, allerdings besteht auch keine Umsetzungspflicht des Vorschlags durch die Bundesregierung (vgl. die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/1558, 39). Der Mindestlohnkommission kommt damit durch ihr alleiniges Vorschlagsrecht durchaus eine bedeutende Stellung zu.
Wie weit darf die Politik in die Lohnfindung eingreifen?
Eingriffe der Politik in den Mindestlohn wären allerdings kein Tabubruch. Bereits im Jahr 2022 nahm die damalige SPD-geführte Koalition eine gesetzliche Änderung vor und erhöhte den Mindestlohn mit Wirkung zum 1. Oktober 2022 auf zwölf Euro brutto und fixierte diese Regelung in § 1 Abs. 2 MiLoG (Gesetz v. 28.6.2022, BGBl. I S. 969). Der Grund auch damals: Die Umsetzung von Wahlkampfforderungen.
Dabei war selbst bei der Verabschiedung des Mindestlohngesetzes die Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze mit Blick auf die den Tarifvertragsparteien vorbehaltene Frage der Lohnfindung nicht unumstritten. Verschiedene Verfassungsbeschwerden gegen die Einführung des Mindestlohns waren zwar vor dem Bundesverfassungsgericht, wenngleich auch aus formalen Gründen, erfolglos. Die Diskussion um einen Eingriff in die verfassungsrechtlich gem. Art. 9 Grundgesetz (GG) geschützte Tarifautonomie ist allerdings nie verstummt.
Entsprechende Gutachten, zugegebenermaßen seitens der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) beauftragt, kamen daher seinerzeit auch zu einem Verstoß gegen die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG (zum Gutachten als Aufsatz: Schorkopf, ZFA 2022, S. 308 ff.; ebenso: Gießen, ZFA 2022, S. 347 ff.). Diese Diskussion dürfte erneut aufflammen, wenn die Politik einen entsprechenden Mindestlohn qua Gesetz festsetzte. Denn die Lohnfindung ist Sache der Tarifpartner.
Die Politik darf allenfalls Lohngrenzen setzen, um eine Absicherung in Form eines existenzsichernden Minimums zu gewährleisten. Bei der geplanten Anhebung auf 15 Euro wird fraglich sein, ob die Verhältnismäßigkeit noch gegeben ist und ob der Gesetzgeber nicht unverhältnismäßig in den Bereich der tariflichen Lohnpolitik eingreift. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Mindestlohn deutschlandweit gilt. So mögen 15 Euro vielleicht in Hamburg, München oder Düsseldorf für Arbeitgeber noch zu stemmen sein, in strukturschwachen Regionen sieht das aber ganz anders aus.
Und was ist mit Europa?
Hilft das nationale Recht nicht weiter, lohnt oftmals ein Blick nach Europa. Ließe sich dort ein Argument finden, den Mindestlohn gesetzlich auf 15 Euro zu erhöhen? Nun: Soweit sich die SPD bisweilen auf die europäische Mindestlohn-RL (RL (EU) 2022/2041) beruft, die einen an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientierten Mindestlohn vorschlägt, dürfte dieses Argument nicht verfangen.
Die Richtlinie trifft zum einen keine eindeutige Festlegung, zum anderen bestehen an der Wirksamkeit der Richtlinie mangels ausreichender Kompetenzgrundlage der EU erhebliche Zweifel. Zuletzt hatte dies der Generalanwalt Nicholas Emiliou in seinem Schlussantrag aus Januar 2025 (Schlussantrag v. 14.01.2025, Az. C-19/23) bekräftigt, eine Unwirksamkeit der Richtlinie bejaht und sich für die Aufhebung der Richtlinie ausgesprochen.
Das Thema "Mindestlohn" wird also nicht nur die Politik, sondern womöglich auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen.
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FUHLROTT Arbeitsrecht in Hamburg.
Streit um Einigung im Koalitionsvertrag: . In: Legal Tribune Online, 24.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57059 (abgerufen am: 22.05.2025 )
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