Die bislang national geführte Debatte um den neuen Mindestlohn erreicht Europa. Osteuropäische Transportunternehmen weigern sich, ihren Fahrern 8,50 Euro pro Stunde für Transitfahrten durch Deutschland zu zahlen. Doch die deutsche Rechtslage ist eindeutig, und hält auch europäischen Vorgaben stand, meint Wolfgang Däubler.
Die bislang vor allem national geführte Debatte um den Mindestlohn wird seit Kurzem auch durch das Europarecht beeinflusst. Polnische und ungarische Transportunternehmer haben sich in Brüssel beklagt, weil ihre Lastwagenfahrer den deutschen Mindestlohn auch dann beanspruchen können, wenn sie Deutschland lediglich als Transitstrecke benutzen, um Waren zum Beispiel nach Frankreich oder in die Niederlande zu bringen. Dies sei eine "unverhältnismäßige Belastung" für die ausländischen Arbeitgeber und verstoße gegen Unionsrecht.
Nach einem Besuch des polnischen Arbeitsministers erklärte Arbeitsministerin Nahles, dass sie bis zur Klärung der unionsrechtlichen Fragen die Kontrollen über die Einhaltung des Mindestlohns für Transitfahrer aussetzen würde. Da half auch nicht der Brief aller drei polnischen Gewerkschaften, in dem sie sich gegen die Haltung ihrer Regierung und für den Mindestlohn aussprachen.
Auch in Brüssel stoßen offenbar vor allem die Arbeitgeber auf offene Ohren. Das für Verkehr zuständige Mitglied der Kommission schrieb an die Bundesregierung und bat um Erläuterung, "welches überwiegende öffentliche Interesse" es rechtfertige, dass ausländische Verkehrsunternehmen den Mindestlohn auch dann bezahlen müssen, "wenn sie Deutschland ohne Be- und Entladung" durchqueren.
Auf das sogenannte Pilotverfahren, das damit gegen den Mindestlohn für Lkw-Fahrer beim Transit durch Deutschland eingeleitet wurde, könnte sogar ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) folgen. Doch bedarf es überhaupt eines "überwiegenden öffentlichen Interesses", wie die Kommission schreibt?
Gilt der deutsche Mindestlohn für Transitfahrer?
Das MiLoG spricht die Frage nicht ausdrücklich an, ob es auch Arbeitnehmer erfassen will, die für einen ausländischen Arbeitgeber in Deutschland tätig sind. In seinem § 22 Abs. 1 Satz 1 begnügt es sich vielmehr mit der Anordnung, es gelte "für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer".
Mehr Aufschluss verspricht demgegenüber das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). In seinem § 2 Nr. 1 ordnet es an, dass die in Rechtsvorschriften enthaltenen "Mindestentgeltsätze" auch auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem im Ausland ansässigen Arbeitgeber und seinen im Inland beschäftigten Arbeitnehmern "zwingend Anwendung" finden. Zu solchen Rechtsvorschriften zählt, was niemand bezweifelt, auch das MiLoG, ebenso wie seine Vorgängerregelung im Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen.
Auf eine bestimmte Dauer des Arbeitsverhältnisses kommt es nicht an. Darin liegt eine bewusste Entscheidung, die auch anders hätte ausfallen können: die Entsende-Richtlinie der EU (Richtlinie 96/71/EG, ABlEG 1997 Nr. L 18/1) lässt es zu, Arbeitsverhältnisse von bis zu acht Tagen (Art. 3 Abs. 2) bzw. von bis zu einem Monat (Art. 3 Abs. 3) unter bestimmten Voraussetzungen auszuklammern.
In anderen Teilen der deutschen Rechtsordnung gibt es solche Ausnahmen für "Transit-Fälle" auch. So findet etwa das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) nach seinem § 1 Abs. 5 Satz 4 keine Anwendung, wenn ein Datenträger "nur zum Zwecke des Transits" im Inland eingesetzt wird. Dem Spezialisten für internationales Privatrecht ist die Figur der "res in transitu" geläufig: An dem ursprünglich anwendbaren Recht ändert sich nichts, wenn eine bewegliche Sache durch ein anderes Rechtsgebiet transportiert wird. Kennt zum Beispiel das italienische Recht im Gegensatz zum deutschen besitzlose Pfandrechte an Kraftfahrzeugen, so bleiben diese auch dann bestehen, wenn der Wagen den Geltungsbereich des BGB von Rosenheim bis Flensburg durchquert.
Allerdings: Genau solche Ausnahmen kennt das AEntG nicht. Daher findet es auf jede in Deutschland erbrachte Arbeit Anwendung.
2/2: Entsende-Richtlinie sieht keinen Mindestlohn vor
Die unionsrechtlichen Einwände ließen sich schnell ausräumen, wenn das AEntG seinem Inhalt nach nur die Entsende-Richtlinie umsetzen würde. Diese wird nämlich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in ständiger Rechtsprechung als zulässige Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen. Jeder Mitgliedstaat kann die dort vorgesehenen Mindeststandards auch gegenüber ausländischen Arbeitgebern durchsetzen. Nur wenn ein Land, zum Beispiel im Vergaberecht, darüber hinausgeht, kann es Probleme geben.
Die Entsenderichtlinie hat jedoch einen engeren Anwendungsbereich als das AEntG. Sie betrifft nur "Entsendefälle", die in ihrem Art. 1 Abs. 3 definiert sind und bei denen ein inländischer Dienstleistungsempfänger eine vertraglich geschuldete Leistung erhält. Damit ist zwar der Fall gedeckt, dass im Inland be- oder entladen wird, nicht aber die reine Transit-Situation.
Den Mindestlohn auch auf diese zu erstrecken, ist in der Entsenderichtlinie nicht vorgesehen. Unter diesen Umständen ist der Mindestlohn für Transitfahrer direkt an der Dienstleistungsfreiheit zu messen.
Dienstleistungsfreiheit erlaubt Arbeitnehmerschutz
Nach der Rechtsprechung des EuGH schützt die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) generell gegen Beschränkungen – auch gegen solche, die gleichermaßen für Inländer wie für Ausländer gelten. Das entspricht zwar nicht dem ursprünglichen Sinn der "Grundfreiheiten", die gegen Diskriminierungen schützen wollten, ist aber bis auf weiteres als Faktum hinzunehmen.
Einschränkende Regelungen bedürfen daher einer Rechtfertigung, die sich insbesondere auf Art. 62 in Verbindung mit Art. 52 AEUV stützen kann. Dort sind unter anderem "Gründe der öffentlichen Ordnung" genannt, wozu der EuGH auch die Wahrung von Arbeitnehmerinteressen zählt. Wie stark man ihnen Rechnung trägt, liegt dabei in der Verantwortung der Mitgliedstaaten.
Diese können, wie im AEntG, "angemessene Mindestarbeitsbedingungen" festschreiben. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen sie lediglich eine Situation vermeiden, in der eine Gruppe von Arbeitnehmern geschützt wird, während eine andere, die sich in der gleichen Situation befindet, ohne diesen Schutz bleibt. Gerade eine solche Diskrepanz vermeidet der deutsche Mindestlohn, weil er für alle Berufsgruppen sowie für in- und ausländischen Arbeitnehmer gleichermaßen gilt.
Staaten können Mindestlohn frei festlegen
Wie hoch der Mindestlohn dann im Einzelnen ist und wen er erfasst, unterliegt hingegen der freien Entscheidung der Mitgliedstaaten, was sich nicht zuletzt in dem sehr unterschiedlichen Niveau in den westeuropäischen Staaten zeigt. Dabei steht es den Gesetzgebern der einzelnen EU-Mitglieder offen, zu standardisieren, sie müssen nicht für jedes Individuum und jede kleine Gruppe ein überwiegendes öffentliches Interesse nachweisen.
Insoweit hat der deutsche Gesetzgeber nur von seinem Ermessen Gebrauch gemacht und deshalb die Dienstleistungsfreiheit nicht verletzt.
Über den Schutz der Betroffenen hinaus dient die bestehende Regelung noch einem weiteren Zweck. Die EU-Niederlassungsfreiheit gibt deutschen Spediteuren das Recht, eine Tochtergesellschaft zum Beispiel in Polen oder in Bulgarien zu gründen, ihre Lkws dort registrieren zu lassen und mit vor Ort eingestellten Fahrern Transporte in Deutschland durchzuführen. Entsprechende Praktiken großer deutscher Spediteure, etwa Fixemer und Betz, gab es schon vor dem EU-Beitritt osteuropäischer Länder, damals oft im Widerspruch zum geltenden Recht.
Der Wettbewerbsvorsprung, der dadurch erreicht wurde, dass in diesen Ländern geringere Löhne üblich sind, wird wenigstens etwas kleiner, wenn Deutschland diese Unternehmen dazu verpflichtet, ihren Fahrern während einer Transit-Fahrt den Mindestlohn zu zahlen. Wer eine besondere Rechtfertigung sucht, kann sie in der Abwehr dieser Gefahr finden.
Der Autor Wolfgang Däubler ist Professor i. R. für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, insbesondere zum Arbeitsrecht und zum Datenschutz. Tätigkeit als Vorsitzender von Einigungsstellen und als Berater bei arbeitsrechtlichen Reformvorhaben im Ausland.
Prof. Wolfgang Däubler, EU-Kommission prüft Mindestlohn für Transitfahrer: Deutschland muss sich nicht rechtfertigen . In: Legal Tribune Online, 03.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14567/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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