Schon lange wird in Europa darüber diskutiert, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern. Das birgt praktische Probleme – und sollte allenfalls ein Baustein eines Gesamtansatzes sein, findet Daniel Thym.
Klassische Einwanderungsländer wie die USA oder Australien verwenden viel Energie darauf, anhand politischer Vorgaben zu entscheiden, welche Ausländer kommen sollen und bleiben dürfen. Das Ziel ist, dass möglichst viele Fachkräfte einwandern und "unerwünschte" Asylanträge verhindert werden. Australien entwickelte hierfür nach der Jahrtausendwende die "Pazifische Lösung". Migranten und Flüchtlinge, die auf Booten irregulär einzureisen versuchen, werde nicht mehr an Land gelassen, sondern in ein Flüchtlingslager auf der Pazifikinsel Nauru verbracht, dessen Finanzierung gerade erst verlängert wurde. Der Traum vom besseren Leben in Australien endet für Bootsflüchtlinge seither in der Perspektivlosigkeit.
Auch in Europa sehnen sich manche nach Vergleichbarem. Seit zwanzig Jahren wird immer wieder gefordert, die Asylverfahren nach Nordafrika auszulagern. Innenminister Otto Schily (SPD) verteidigte im Jahr 2004 ein Modell, das die britische Regierung unter Tony Blair auf der EU-Ebene lanciert hatte. Selbst Angela Merkel outete sich 2018 als Anhängerin externer Asylverfahren, die es sogar in den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition schafften. Man will "prüfen, ob die Feststellung des Schutzstatus in Ausnahmefällen" und unter voller Beachtung des Völkerrechts "in Drittstaaten möglich ist". Eben hieran erinnerte der neue Sonderbevollmächtige Joachim Stamp in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Die Versuchung vermeintlich einfacher Lösungen
Gerade in der aktuellen Situation erscheint die Idee verlockend. Die Kommunen warnen immer lauter davor, dass die Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Über 300.000 Personen sind vollziehbar ausreisepflichtig und müssten Deutschland eigentlich verlassen. Rückführungen funktionieren jedoch notorisch schlecht. Auch der Wunsch nach einer europaweiten Verteilung wird nicht erhört werden. Auf dem Papier sind nach den Dublin-Regeln zwar häufig andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zuständig, in der Praxis leben sehr viele aber dann doch dauerhaft hier.
All diese Schwierigkeiten nähren den Wunsch, den gordischen Knoten durch einen Befreiungsschlag zu lösen. Eben dieses Versprechen einer einfachen Lösung dürfte der wichtigste Grund sein, warum die Forderung immer wieder aufkommt, obwohl sie in Europa bisher noch nie funktionierte. Die dänische Regierung änderte vor zwei Jahren zwar ein Gesetz, um externe Asylverfahren zu erlauben, verfolgt die Idee derzeit aber nicht aktiv weiter.
Weiter vorangeschritten ist der britische "Ruanda-Plan". Das Vereinigte Königreich schloss eine Vereinbarung mit dem afrikanischen Staat, die auf die frühere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugeschnitten ist. Ein erster Rückführungsflug wurde ausgesetzt, nachdem der Straßburger Gerichtshof gefordert hatte, dass erst die britischen Gerichte über den Einzelfall entscheiden. In der ersten Instanz gewann die Regierung, derzeit liegt das Verfahren beim Berufungsgericht.
Rechtliche Hürden theoretisch überwindbar, praktisch kaum
Das britische Urteil zeigt, dass die Behauptung nicht stimmt, dass externe Asylverfahren generell rechtswidrig seien. Die zentrale Garantie der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist das sogenannte Refoulement-Verbot. Staaten dürfen jemanden nicht in ein Land zurückschicken, in dem die Verfolgung oder ein schwerer Schaden droht oder auch essenzielle Lebensbedürfnisse nicht gewährleistet sind. Es gibt ein Menschenrecht auf Schutz, nicht aber auf freie Wahl des Asyllandes.
Hierbei verlangt der EGMR, dass man ein Land nicht einfach als sicher einstuft, sondern in einem kurzen Verfahren prüft, ob im Einzelfall eine Gefahr droht. Außerdem muss der abschiebende Staat mit einem Monitoring-Mechanismus sicherstellen, dass ein Zielstaat die Mindestgarantien nicht nur auf dem Papier zusichert, sondern dauerhaft bereitstellt. All dies ist vor jeder Rückführung zu prüfen, weshalb sich das Verfahren nicht für einen Massenzustrom eignet. Die Hoffnung besteht darin, dass allein die Existenz dazu führt, dass von vornherein weniger Menschen die Kosten und Risiken der illegalen Einreise auf sich nehmen.
Für Deutschland und andere EU-Staaten kommt noch etwas Weiteres hinzu. Diese müssen – anders als Großbritannien und Dänemark infolge einer Ausnahmeregelung – die Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU beachten. Diese gewährt jedem Ausländer, der das EU-Territorium erreicht hat, ein individuelles Asylverfahren. Wenn man dieses generell in Drittstaaten auslagern wollte, müsste man also die Richtlinie ändern. Theoretisch wäre dies auch möglich, praktisch erscheint dies gegenwärtig jedoch als illusorisch.
Wenn die reichen Europäer die Rechnung ohne den Wirt machen
Eine rechtliche Hintertür gibt es dennoch. Ein individuelles Recht auf ein Asylverfahren nach EU-Standards entsteht erst dann, wenn jemand einen Mitgliedstaat erreicht hat. Auf der Hohen See, die im zentralen Mittelmeer zwölf Seemeilen vor der italienischen Küste beginnt, gelten dagegen "nur" die GFK und EMRK. Diese Hintertür könnte man nutzen, um speziell Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, in sichere Nachbarländer zu bringen, damit dort geprüft wird, ob sie Schutz benötigen.
Es ist diese Variante externer Asylverfahren, die Angela Merkel im Juni 2018 forcierte. Sie erreichte, dass sich der Europäische Rat dafür aussprach, "Ausschiffungsplattformen" in den Nachbarstaaten einzurichten. Eben dieses Modell griff Joachim Stamp auf – und fügte warnend hinzu: "Das erfordert aber sehr viel Diplomatie und einen langen Vorlauf." Einen "Schnellschuss" nach britischem Vorbild lehne er ab.
Der zweite Aspekt entspringt dem rhetorischen Wunsch, sich von der konservativen britischen Regierung abzugrenzen, der erste Gedanke jedoch trifft ins Schwarze. Die Europäer machen es sich zu einfach, wenn sie meinen, dass sie ihre internen Probleme dadurch lösen, diese auf Dritte abzuwälzen. Die ehemaligen Kolonien wollen außenpolitisch und gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht als Handlager der reichen Europäer dastehen. Die EU-Organe und Angela Merkel fanden kein Land, das die Ausschiffungsplattformen aufzunehmen bereit war.
Der Teufel steckt im Detail: organisatorische Fallstricke
Selbst wenn die Standortsuche erfolgreich verliefe, blieben enorme logistische Herausforderungen. Wer betreibt die Zentren: die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten, internationale Akteure wie das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und die Internationalen Organisation für Migration (IOM), das Gastland oder auch private Unternehmen? Welche Verfahren werden angewandt: die komplizierten europäischen Asylrichtlinien oder die einfacheren internationalen Standards, die UNHCR bei der Feststellung verwendet, ob jemand Flüchtling ist oder nicht? Gibt es Rechtsschutz und wenn ja, vor welchem Gericht? Wie gut ist die Unterbringung, dürfen die Asylbewerber im Gastland arbeiten und sich frei bewegen? Werden diejenigen mit Schutzbedarf am Ende legal in die EU geholt oder bleiben sie nach australischem Vorbild dauerhaft außen vor? Warum soll die Rückführung abgelehnter Asylbewerber aus Nordafrika besser funktionieren als aus Europa?
All diese Fragen wären politisch zu entscheiden und organisatorisch umzusetzen. Dramatische Zustände wie auf den griechischen Inseln wären früher oder später vorprogrammiert. Extrem schlechte Lebensbedingungen, eine dauerhafte Inhaftierung und fehlende Arbeitsmöglichkeiten für diejenigen, deren Antrag positiv beschieden wird, sind für die Frage relevant, ob die EMRK und die GFK es erlauben, die Asylverfahren zu externalisieren. Die Bundesregierung und die EU gingen also ein beträchtliches Risiko ein, wenn sie den Dauerbrenner externalisierter Asylverfahren eines Tages tatsächlich umsetzen.
Hinzu kommt, dass der Erfolg des Vorhabens von einem Faktor abhinge, den die Europäer nicht direkt kontrollieren: die Anzahl der betroffenen Personen. Künftig könnten Migranten und Flüchtlinge die Risiken und Kosten einer waghalsigen Schlauchbootfahrt umgehen und sich stattdessen direkt bei den externen Asylzentren melden. Dies könnte bewirken, dass die Umsetzung der Idee am Ende dazu führt, dass mehr Menschen kommen als bisher. Die organisatorischen Herausforderungen würde dies noch vergrößern.
Motive bestimmen die rechtspolitische Bewertung
Nun sollten praktische Probleme in der Asylpolitik kein Hindernis sein, auch einmal etwas Unkonventionelles auszuprobieren. Die Politik des "Durchwurstelns", die viele EU-Staaten seit Jahren betreiben, ist auf Dauer auch keine Lösung. Allerdings sollte sich die öffentliche Diskussion von der Illusion verabschieden, mit ausgelagerten Asylverfahren einen Königsweg gefunden zu haben, der alle Probleme über Nacht auflöst. Das wird nicht passieren.
Die Idee könnte allenfalls ein Baustein eines umfassenden Ansatzes sein, der auf verschiedenen Ebenen die Interessen der Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten zusammenführt. Für die rechtspolitische Glaubwürdigkeit wäre ein solcher Gesamtansatz ohnehin zentral. UNHCR zum Beispiel lehnte externe Asylverfahren nicht grundsätzlich ab, fordert jedoch, dass diese zu einer solidarischen internationalen Lastenteilung beitragen. Das ist dann auch der entscheidende Unterschied zwischen den Überlegungen der Bundesregierung und der Forderung der AfD, alle Asylbewerber einfach in Drittstaaten zu verfrachten. Das läuft auf eine Abschaffung des Individualrechts auf Asyl hinaus, anstatt für bestimmte Konstellationen und Ausnahmefälle wie die Seenotrettung eine abgestimmte Lösung mit Partnerländern zu finden.
In der Praxis haben all die Vorschläge dazu geführt, dass man anstelle externer Asylverfahren auf Lösungen setzt, die weniger rechtliche, politische und organisatorische Probleme mit sich bringen. Dazu gehört der Bau von Zäunen, die Migranten und Flüchtlinge davon abhalten, in die EU einzureisen und hier einen Asylantrag zu stellen. Außerdem sind afrikanische Länder wie Marokko, Tunesien oder Niger bereit, die Zuzugszahlen zu reduzieren, wenn sie entsprechende Gegenleistungen erhalten. Das ist weniger sichtbar als externe Asylzentren, im Ergebnis jedoch ebenso effektiv. Der Europäische Rat wird eben dies am Donnerstag auszubauen beschließen. Für die Europäer haben solche indirekte Zugangskontrollen durch die Nachbarn den Vorteil, dass sie nicht direkt dafür verantwortlich sind, wie die Menschen behandelt werden.
Prof. Dr. Daniel Thym ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz.
Asylverfahren in Drittstaaten: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51031 (abgerufen am: 14.12.2024 )
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