Aussetzung des Familiennachzugs zu Bürgerkriegsflüchtlingen: Men­schen­rechte geben Spiel­raum

Gastkommentar von Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M.

10.02.2025

Einige Parteien möchten den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nur noch im Härtefall erlauben. Diese Gesetzeslage gab es bereits und sie wäre mit Grundgesetz und Europarecht vereinbar, meint Daniel Thym.

Für Recht und Justiz wird die Asyldebatte gefährlich, wenn die Politik sich im engmaschigen Netz nationaler und europäischer Vorgaben zu verheddern droht. Dem Rechtsstaat erweist daher einen Bärendienst, wer die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten als evident verfassungs- und menschenrechtswidrig präsentiert. Das ist juristisch falsch und kann unbeabsichtigt jene stärken, die sich von den vermeintlichen "Fesseln" der Rechtsprechung befreien möchten.

Der Familiennachzug gehört auch nach dem Scheitern des "Zustrombekämpfungsgesetzes" im Bundestag zu den Sollbruchstellen der Koalitionsverhandlungen. Die Ministerpräsidentenkonferenz hatte eine Aussetzung bereits im Herbst gefordert und das Wahlprogramm von CDU/CSU verlangt dasselbe – anders als die SPD, die den Nachzug fortzusetzen verspricht, und die Grünen, die ihn erleichtern wollen. 

Ein Vergleich mit der früheren Aussetzung hinkt

CDU und CSU argumentieren, die Aussetzung sei kein Problem, weil dasselbe bereits einmal praktiziert worden sei. Bis 2015 hatten subsidiär Schutzberechtigte ihre Familie nur in Ausnahmefällen nachholen dürfen. Was heute als menschenrechtswidrig kritisiert wird, war noch vor zehn Jahren gängige Praxis. Am Vorabend der "Flüchtlingskrise" liberalisierte die Große Koalition die Regeln, nur um sie wenig später ab März 2016 für Personen, die neu einreisten, für zwei Jahre auszusetzen. 

Wer zuvorgekommen war, erhielt weiter einen Familiennachzug. Alle anderen unterfielen ab 2018 der aktuelle Kontingentlösung von 1.000 Personen pro Monat, die bei Weitem nicht ausgeschöpft wird, sodass nahezu alle Nachzugsbegehren erfüllt werden. Von 2016 bis 2018 bestand also eine Wartefrist von zwei Jahren und keine dauerhafte Aussetzung. Zwei Jahre nach der Einreise wurde der Nachzug möglich.

CDU/CSU und die Ministerpräsidentenkonferenz dürfte eine solche Wartefrist kaum zufriedenstellen. Sie änderte nichts an den großzügigen Nachzugsregeln zwei Jahre nach der Einreise. Ganz konkret erfasste eine Wartefrist ab Januar 2026 nicht die 100.000 Syrer, die 2023 eingereist sind. Viele dieser zumeist jungen Männer (78,5 Prozent) erhielten subsidiären Schutz und können daher ihre Familien nachholen. 

Syrien betreffen 90 Prozent der ungefähr 12.000 Familiennachzugsvisa pro Jahr. Wir werden noch sehen, warum gerade für Syrien ein Spielraum besteht. Unabhängig hiervon existiert rein tatsächlich bereits heute eine faktische Wartefrist, weil der Nachzug erst nach einem positiven Asylbescheid beantragt werden kann. Das Asylverfahren dauert rund acht Monate; wenn davor eine Überstellung nach den Dublin-Regeln versucht wird, kommen nochmals neun Monate hinzu. Eine zweijährige Wartefrist wäre also kaum mehr als ein Symbol, das in der Praxis wenig änderte.

Menschenrechte erlauben eine längere Aussetzung

Eine Aussetzung für mehr als zwei Jahre widerspricht nur scheinbar einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das eine dreijährige dänische Aussetzung aufgehoben hatte. Ähnliches hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon 1987 geschlussfolgert. Aber Achtung! Wenn die Kirchen und der Sachverständigenrat für Integration und Migration eine dauerhafte Aussetzung für "unausgegoren" und "rechtlich sicher nicht zulässig" erachten, behauptet dies eine menschenrechtliche Brandmauer, die juristisch so nicht existiert. 

Der EGMR verlangt nach zwei Jahren "nur" eine individuelle Güterabwägung aufgrund zahlreicher Kriterien. Hiernach kann im Einzelfall ein Nachzugsanspruch bestehen – allerdings deutlich seltener als nach dem aktuellen § 36a Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Es besteht also ein menschenrechtlicher Spielraum für eine Verschärfung. Auch eine gänzliche Aussetzung ist möglich, solange im Einzelfall eine juristische Hintertüre verbleibt, um grundrechtliche Nachzugsansprüche zu erfüllen.

Eine solche Hintertüre identifizieren Urteile des wegen des Sitzes des Auswärtigen Amtes meistens zuständigen Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg und auch des Bundesverwaltungsgerichts in den einzelfallbezogenen Aufnahmeregelungen der §§ 22 f. AufenthG bzw. des § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG für die ähnlich gelagerte deutsche Praxis, vor allem afghanischen Männern, die nicht von den Taliban verfolgt werden, ein Abschiebungsverbot wegen krasser Armut zuzusprechen.

Eben diese Ausnahmen dürfte die Ministerpräsidentenkonferenz gemeint haben, als sie im letzten Herbst eine Beschränkung auf Härtefälle forderte. Auch das umstrittene Zustrombekämpfungsgesetz beseitigt die §§ 22 f. AufenthG nicht. Man hätte höchstens, wie derzeit in § 36a Abs. 1 S. 4 AufenthG, auf diese verweisen oder die Unberührtheit in der Begründung klarstellen können. Daneben mag es weitere dogmatisches Argumente gegen eine Aussetzung geben. Allein ein solches Pro und Contra ist etwas anderes als eine evidente Verfassungswidrigkeit.

Gewiss ist das Migrationsrecht notorisch kompliziert, sodass man leicht den Überblick verliert. Gerade deshalb sollte man jedoch nicht vorschnell juristische Eindeutigkeiten behaupten, die die Gesetzesstruktur und Rechtsprechung so nicht hergeben. Das gilt auch für die von den Kirchen vorgebrachte Europarechtswidrigkeit, die schlicht übersah, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Frage inzwischen anders entschieden hatte (Urt. v. 07.11.2018, Az. C‑380/17). Menschenrechte sind kein Wünsch-Dir-Was, um das politisch gewünschte Ergebnis dem politischen Diskurs zu entziehen. In Zeiten einer politischen Polarisierung unterminiert dies die Akzeptanz des Rechtsstaats.

Warum der Sturz des Assad-Regimes Aussetzung erleichtert

Der EGMR verneint im Einklang mit dem BVerfG einen pauschalen Nachzugsanspruch, weil internationale Paare in zwei Staaten leben können: Deutschland oder dem Herkunftsland. Gerade bei Flüchtlingen unter Einschluss von subsidiär Schutzberechtigten lautet eine zentrale Weichenstellung daher, ob ein Familienleben im Heimatland oder einem Transitstaat möglich ist. Wenn das wegen drohender Verfolgung oder Bürgerkriegsgefahren ausscheidet, neigt sich die Waage bei der Güterabwägung zu Gunsten eines Zusammenlebens im sicheren Deutschland. Ein generelles Nachzugsrecht entsteht dennoch nicht. Es bleibt bei einer Einzelfallentscheidung, die andere Kriterien wie Straftaten, die wirtschaftliche Selbständigkeit und Integrationsleistungen berücksichtigen darf. 

Gerade für Syrien eröffnet der Sturz des Assad-Regimes neue Spielräume. Die Lage vor Ort verbessert sich trotz aller Probleme. Akute Lebensgefahr und Verfolgung droht nicht mehr pauschal allen Syrern, weshalb das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Asylprüfungen aussetzte. Diese Veränderung ist für die menschenrechtliche Güterabwägung auch dann relevant, wenn das BAMF schon aus Kapazitätsgründen bestehende Asylbescheide vorerst nicht widerruft. Für Syrien verlangen die Menschenrechte häufig also keinen Rückgriff auf die Härtefallklausel der §§ 22 f. AufenthG, soweit die künftige Regierung den Nachzug aussetzte.

Ein solcher Schritt beträfe nicht nur Syrer, die bereits in Deutschland leben. Im Januar stellten 4.640 Syrer erstmals einen Asylantrag, wovon die meisten neu eingereist waren. Das dürfte in den nächsten Monaten so weitergehen. Ein ausgesetzter Familiennachzug hätte insofern eine Signalwirkung, dass speziell Syrer nicht mehr kommen sollen. Sehr viele Faktoren beeinflussen Migrationsentscheidungen, aber die Aussicht, die Familie nicht nachholen zu können, wäre sicherlich nicht wirkungslos. 

Eine erfolgreiche Integration sollte belohnt werden

Rechtspolitisch brisant ist der Familiennachzug nicht nur aufgrund der aktuell aufgeheizten Debatte. Vielmehr werden Flüchtlinge unter Einschluss von subsidiär Schutzberechtigten deutlich besser behandelt als ausländische Arbeitskräfte und selbst Deutsche. Für diese gibt es, pointiert formuliert, keinen "Familiennachzug in die Sozialsysteme". Dagegen bekommen Flüchtlinge einen Familiennachzug auch bei Arbeitslosigkeit und fehlender Wohnung. Der Sozialstaat kümmert sich um die ganze Familie.

Es könnte die Koalitionsverhandlungen erleichtern, wenn CDU/CSU eine Ausnahme akzeptierten, wenn subsidiär Schutzberechtigte schon vor dem Erwerb einer Niederlassungserlaubnis das Einkommen für die Familie selbst erarbeiten und eine eigene Wohnung besitzen. Solche Kriterien sind eines Einwanderungslandes würdig. Perspektivisch könnte entsprechendes durch eine EU-Gesetzesänderung auch für Personen mit Asyl- und Flüchtlingsstatus eingeführt werden – immer vorbehaltlich einer Härtefallklausel, wenn die Menschenrechte einen Nachzug verlangen.

Professor Dr. Daniel Thym ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Leiter des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht.

Zitiervorschlag

Aussetzung des Familiennachzugs zu Bürgerkriegsflüchtlingen: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56558 (abgerufen am: 17.03.2025 )

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