BVerfG zum Nebeneinander von Maßregel und Strafe: Keine sinnlosen Sonderopfer

Wer bereits seit über vier Jahren im psychiatrischen Maßregelvollzug erfolgreich behandelt wird, darf danach nicht zwingend zur Verbüßung einer älteren Freiheitsstrafe aus einem anderen Verfahren in den Strafvollzug eingewiesen werden. Die Vorschrift des § 67 Abs. 4 StGB ist insoweit verfassungswidrig, entschied das BVerfG am Dienstag. Völlig zu Recht, kommentiert Helmut Pollähne.

Die Rechtsmaterie ist äußerst kompliziert, der zu entscheidende Einzelfall war es ebenfalls: Der inzwischen 43-jährige Beschwerdeführer, der bereits im Jugendalter in der Psychiatrie untergebracht wurde, war in den 1990-er Jahren mehrfach wegen – zum Teil gewaltsamer – Eigentumsdelikte auch zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.

Im Sommer 2004 verhängte dann das Landgericht (LG) Frankfurt/Main wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an (§ 63 Strafgesetzbuch, StGB). Nachdem die Staatsanwaltschaft bis ins Jahr 2004 hinein mehrfach versucht hatte, die älteren Freiheitsstrafen zu vollstrecken, was insbesondere an der psychischen Erkrankung des Betroffenen scheiterte, wurde dieser schließlich festgenommen und landete zunächst im Strafvollzug. Von August 2004 bis Januar 2009 befand er sich dann jedoch im Maßregelvollzug.

Bereits an dieser Stelle drängt sich eine Frage auf, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bewusst dahinstehen ließ, weil sie nicht unmittelbar Gegenstand des Verfahrens war: Wieso sollte es mit der Verfassung vereinbar sein, aus Anlass einer Verurteilung wegen des Diebstahls geringwertiger Sachen und einer Körperverletzung (bei einer Begleitstrafe von nur sechs Monaten) viereinhalb Jahre im geschlossenen Maßregelvollzug verbringen zu müssen?

§ 67 Abs. 4: Vier Monate Anrechnung für viereinhalb Jahre Maßregelvollzug

Für die Karlsruher Richter allerdings stellte sich ein anderes Problem, das jedoch mit besonderer Schärfe: Da ein Gnadenantrag zur Erledigung der alten Strafen, deren Verurteilungen mittlerweile 15 bis 20 Jahre zurücklagen, ohne Erfolg blieb, wurden 2008 sämtliche Lockerungen im Vollzug gestrichen und der Betroffene auf eine gesicherte Station zurückverlegt.

Entnervt beantragte er daraufhin die Vollstreckungsunterbrechung und befand sich ab Januar 2009 im Strafvollzug. Alle Instanzen lehnten es ab, die im Maßregelvollzug verbrachte Unterbringungszeit auf die Gesamtvollstreckungszeit aller rechtskräftigen Urteile anzurechnen. Die Gerichte verwiesen dabei jeweils auf § 67 Abs. 4 StGB, der eine solche Anrechnung nicht vorsehe.

Die kuriose Rechtslage hätte dazu geführt, dass von den viereinhalb Jahren nur vier Monate auf die Begleitstrafe von sechs Monaten angerechnet würden, während alle anderen älteren Strafen vollständig, im besten Fall mit Reststrafenaussetzung, zu verbüßen wären. Danach hätte der Betroffene in den (nur unterbrochenen) Maßregelvollzug zurückkehren müssen in der Hoffnung, dort in absehbarer Zeit auf Bewährung entlassen zu werden.

BVerfG: Heilerfolge würden zunichte gemacht, das Sonderopfer entwertet

Der Einzelfall war offenbar "Härtefall" genug, um das BVerfG dazu zu veranlassen, nicht nur die vollstreckungsrechtliche Handhabung dieses Falles zu rügen. Karlsruhe erklärt vielmehr auch die einschlägige Rechtsnorm für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG), soweit sie es "ausnahmslos ausschließt, die Zeit des Vollzuges einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung auf Freiheitsstrafen aus einem anderen Urteil als demjenigen, in welchem diese Maßregel angeordnet worden ist, oder das bezüglich des die Maßregel anordnenden Urteils gesamtstrafenfähig ist ("verfahrensfremde Freiheitsstrafen"), anzurechnen" (so der etwas sperrige Leitsatz des am Dienstag veröffentlichten Beschlusses v. 27.03.2012, Az. 2 BvR 2258/09). Der 2. Senat gab dem Gesetzgeber auf, die Vorschrift des § 67 Abs. 4 StGB zu ändern; derweil ist sie so anzuwenden, dass zumindest solche Härtefälle wie der des Beschwerdeführers vermieden werden.

Bemerkenswert ist, dass sich in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren die dazu befragte Justiz deutlich grundrechtssensibler zeigte als das Bundesjustizministerium: In Anbetracht dieses Falles von der "Gefahr" zu sprechen, dass eine Anrechnung "Mehrfach- und Wiederholungstäter ungerechtfertigt bevorzuge", verschlägt einem schon die Sprache.

Demgegenüber führten sowohl der Generalbundesanwalt als auch der Bundesgerichtshof zu Recht ins Feld, dass die Nichtanrechnung der Maßregelvollzugszeiten unverhältnismäßig ist, wenn "die naheliegende Gefahr bestehe, dass der anschließende Strafvollzug den zuvor im Maßregelvollzug bereits erzielten Heilerfolg wieder zunichte machen und damit das vom Verurteilten erbrachte Sonderopfer sinnlos werden würde".

Dem hat sich das BVerfG mit guten Gründen angeschlossen: Im vorliegenden Fall drohe die Nichtanrechnung "mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die im Maßregelvollzug erreichten Behandlungsfortschritte zunichte zu machen und damit die erfolgreiche Resozialisierung des Beschwerdeführers zu vereiteln", und dies sei von Verfassungs wegen unzumutbar: "Die bis dahin im Maßregelvollzug verbrachte Zeit erschiene so nicht nur sinnlos, sondern es drohte nach der Haftverbüßung erneut die Einweisung in den Maßregelvollzug. Damit aber würde das dem Beschwerdeführer im Interesse der Allgemeinheit auferlegte Sonderopfer entwertet."

Der Autor Dr. iur. habil. Helmut Pollähne ist Privatdozent am Institut für Kriminalpolitik und Rechtsanwalt in Bremen. Er ist Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen auf dem Gebiet des Maßregelvollzugsrechts und verantwortlicher Redakteur der Fachzeitschrift "Recht & Psychiatrie".

Zitiervorschlag

Helmut Pollähne, BVerfG zum Nebeneinander von Maßregel und Strafe: . In: Legal Tribune Online, 18.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6024 (abgerufen am: 08.10.2024 )

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