Über den Wahlausschluss für Le Pen will das Berufungsgericht noch vor der Präsidentschaftswahl entscheiden. Das Urteil gegen die Politikerin und seine Begründung sieht ein französischer Rechtsexperte aber auf Linie mit dem Verfassungsrecht.
Es war ein Paukenschlag am Montagvormittag in Paris, mit dem selbst Marine Le Pen nicht gerechnet zu haben schien. Anwesende Medien berichteten, dass die ehemalige Parteichefin des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) fassungslos und verärgert den Gerichtssaal verließ, nachdem die Vorsitzende Richterin am Tribunal correctionnel de Paris verkündet hatte, gegen Le Pen eine Wahlsperre zu verhängen.
Die 56-Jährige wartete nicht einmal die komplette Urteilsverkündung ab, sie kannte zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs nicht einmal die genaue Dauer des Ausschlusses von der Wählbarkeit. Sie wusste nur, dass ihre Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2027 passé ist. Davon ging sie jedenfalls aus – nun will aber das Berufungsgericht noch vor der Wahl entscheiden. Le Pen könnte also doch noch auf dem Wahlzettel landen.
Nur bedingt von Interesse sind in dem Fall die Hauptfolgen des erstinstanzlichen Schuldspruchs wegen jahrelanger Veruntreuung von EU-Geldern: eine Geldstrafe in Höhe von 100.000 Euro und eine vierjährige Freiheitsstrafe, die jeweils hälftig durch Tragen einer Fußfessel abzugelten und zur Bewährung ausgesetzt ist. Angesichts der Aussichten von Le Pen, im April 2027 als Präsidentin in den Élysée-Palast einzuziehen, liegt der Fokus vielmehr auf der strafrechtlichen "Nebenfolge", der Rechtsnationalistin für fünf Jahre das passive Wahlrecht zu entziehen – mit sofortiger Wirkung.
Nun doch eine schnelle Entscheidung
Auch bei Befürwortern einer liberalen Demokratie – Journalisten wie Strafrechtlern – hinterließ dieses Urteil zumindest ein Störgefühl: Sollen doch die Franzosen an der Wahlurne selbst entscheiden, ob sie sich von einer verurteilten Straftäterin vertreten lassen wollen. Wenn das nicht nur eine politische, sondern auch juristische Kritik sein soll, so muss sie allerdings eher an den Gesetzgeber als das Pariser Strafgericht adressiert sein, denn: Die Verhängung der Unwählbarkeit ist nach einer Gesetzesänderung von 2016 im Fall einer Veruntreuung öffentlicher Gelder eine Regelfolge, von der nur im Ausnahmefall abgewichen werden darf.
Mehr Ermessen stand dem Gericht in der Frage zu, ob es die Folge für sofort wirksam erklärt, sodass eine von Le Pen eingelegte Berufung gegen das Strafurteil keine aufschiebende Wirkung hat. Ein gesondertes Rechtsmittel hiergegen gibt es laut Experten nicht.
Womöglich braucht es das auch nicht. Denn nach eigenen Angaben will das Pariser Berufungsgericht bereits bis Sommer 2026 entscheiden, teilte das Gericht am Dienstagabend mit. Bislang seien drei Berufungen eingegangen.
Im Fall einer für die Politikerin günstigen Entscheidung stände ihrer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2027 damit, anders als zunächst von ihr befürchtet, nichts im Wege. Dass das Berufungsgericht noch vor der Wahl entscheiden würde, galt zuvor weithin als unwahrscheinlich.
Drei Millionen Euro Schaden über zwölf Jahre
Das Pariser Gericht hatte Le Pen und weitere Parteimitglieder am Montag wegen unsachgemäßer Mittelverwendung während ihrer Zeit im Europaparlament schuldig gesprochen. Zwischen 2004 und 2016, also über einen Zeitraum von zwölf Jahren, hatte Le Pen aus Brüssel Geld erhalten, um Personen für ihre Tätigkeit als parlamentarische Assistenten zu vergüten. Die Gelder hatte Le Pen verwendet – nach Auffassung des Gerichts aber nicht für diesen vorgesehenen Zweck. Die Personen, die das Geld erhalten haben, sollen keine parlamentarische Arbeit erledigt haben, sondern für den RN tätig gewesen sein. Dabei soll es sich um ein organisiertes System und nicht bloß um ein Versehen gehandelt haben. Das Gericht schätzte den Schaden des EU-Parlaments auf knapp drei Millionen Euro.
Die letzten verfahrensgegenständlichen Gehälter waren im Dezember 2016 ausgezahlt worden. Damit überlappte der Tatzeitraum gerade so mit dem Anwendungszeitraum des neuen Art. 131-26-2 des französischen Strafgesetzes (Code pénal). Dieser war mit einer Reform zur Verschärfung der Korruptionsvorschriften 2016, die als "Loi Sapin II" nach dem damaligen Wirtschaftsminister Michel Sapin bekannt ist, eingeführt worden.
Die Vorschrift macht die Anordnung der Unwählbarkeit zu einer obligatorischen Rechtsfolge im Falle unterschiedlicher Korruptionsdelikte. Die Veruntreuung öffentlicher Gelder ist in dem Katalog des Abs. II aufgeführt. Bis 2016 war diese Nebenstrafe zwar möglich, stand aber im freien Ermessen des Gerichts. Sie sei deshalb gegen Mandatsträger eher selten verhängt worden, sagt Olivier Cahn, Professor für Strafrecht an der Universität Paris Nanterre, CDPC/CESDIP, gegenüber LTO.
Verfassungsgericht: Sofortiger Vollzug soll vor "Rückfall" schützen
Jetzt, nach dem Sapin-II-Gesetz, "waren die Richter gebunden, die Unwählbarkeitsfolge auszusprechen", sagt Cahn. Das Gericht hätte davon nur absehen können durch eine "besonders begründete Entscheidung" nach Art. 131-26-2 Abs. III Code pénal. Bei dieser Ausnahmeentscheidung sind "die Umstände der Tat und in der Person der Täterin" zu berücksichtigen.
Dass das Gericht diesen Weg nicht gegangen ist, begründete es damit, dass sich Le Pen im Lauf des Verfahrens uneinsichtig gezeigt und die Vorwürfe stets als haltlos bestritten habe. Denn dieses Prozessverhalten gebe Anlass zum Verdacht, dass sie vergleichbare Taten erneut begehen könnte. Das Gericht sprach von der Möglichkeit eines "Rückfalls".
Damit bewegte es sich laut Cahn auf der Linie der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (Conseil constitutionnel). Dieses habe erst am Freitag in einem anderen Fall entschieden, dass sowohl die Strafe der Unwählbarkeit als auch deren sofortige Wirkung u.a. dem Zweck dienen, einen Rückfall zu vermeiden. Das Verfassungsgericht betone, dass es darum gehe, das Erfordernis der Integrität der Rechtsordnung wiederherzustellen. Gewählte Volksvertreter müssten mit gutem Beispiel vorangehen. Wird Wählervertrauen enttäuscht, müsse das sichtbare Konsequenzen haben, so die Logik des Gerichts laut Cahn. Es gehe um das verfassungsrechtliche Ziel, die "öffentliche Ordnung" zu bewahren, so das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung wörtlich (Az. 2025-1129 QPC).
Ermessen bei Anordnung der sofortigen Wirkung
Mit diesen Erwägungen habe das Pariser Gericht den Strafausspruch gegen Le Pen gerechtfertigt. Die Entscheidung, den sofortigen Vollzug anzuordnen, entspreche also dem geltenden Recht, so Cahn. Er verweist insofern auf Art. 471 der französischen Strafprozessordnung (Code de procédure pénale). Die Norm gestattet es Strafgerichten, einstweilige Anordnungen zu treffen, um die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels zu verhindern. Insbesondere die Rechtsfolge der Unwählbarkeit darf für sofort wirksam erklärt werden.
Ob das Strafgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, habe das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung vom vergangenen weitgehend ins Ermessen der Strafrichter gestellt, so Cahn. Diese müssten abwägen, wie stark die Rechtsfolge im Einzelfall in das passive Wahlrecht der Kandidaten eingreift.
Das Pariser Gericht habe sein Ermessen aber nicht nur zu Ungunsten von Le Pen ausgeübt, betont Cahn. Hinsichtlich der Zeitdauer der Wahlsperre ist der Strafausspruch deutlich unterhalb der nach Art. 131-26-1 Code pénal möglichen Dauer von zehn Jahren geblieben.
Ein spezielles Rechtsmittel gegen diese Anordnung sehe das französische Strafprozessrecht nicht vor. "Der Gesetzgeber überlässt es dem Tatgericht, die Angemessenheit eines sofortigen Vollzugs zu beurteilen", sagt Cahn. Das Verfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom Freitag dazu lediglich gefordert, dass das Gericht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen müsse. Eine Möglichkeit, den Vollzug einer Strafe auszusetzen, sehe das Strafprozessrecht nur für Notfälle, vor allem medizinischer Art, vor.
Premierminister fordert Rechtsmittel
Der Weg zum Verfassungsgericht steht Le Pen nach Einschätzung von Cahn ebenfalls nicht offen. Die französische Verfassung kennt keine Verfassungsbeschwerde, sondern nur eine Art konkreter Normenkontrolle in Art. 61-1. Hier prüft das Verfassungsgericht auf Vorlage eines Gerichts eine im Verfahren relevante verfassungsrechtliche Frage (Question prioritaire de constitutionnalité). Diese Möglichkeit hatte auch die Bielefelder Strafrechtsprofessorin Charlotte Schmitt-Leonardy im Verfassungsblog ins Spiel gebracht. Für die Zulässigkeit einer solchen Vorlage spreche womöglich "die herausragende politische Stellung des französischen Staatspräsidenten und der Umstand, dass es sich um eine – persönlichkeitsbezogene – Direktwahl handelt", so Schmitt-Leonardy zu LTO.
Cahn ist skeptisch, er weist zudem daraufhin, dass die Vorlage ans Verfassungsgericht nur über das Revisionsgericht (Cour de cassation) laufen würde – eine weitere Instanz, die weitere Zeit kosten würde. Zeit, die Le Pen nicht hat.
Dass es gegen die Entscheidung zur Anordnung des sofortigen Vollzugs kein Rechtsmittel gibt, ist nicht nur aus deutscher Sicht befremdlich. Auch Frankreichs Premierminister François Bayrou von der Zentrumspartei kritisierte diesen Umstand am Dienstag. "Ich bin der Meinung, dass es diese Möglichkeit geben sollte." Es sei Aufgabe des Parlaments, sich darüber Gedanken zu machen.
Für Le Pen würde eine parlamentarische Debatte über eine Gesetzesänderung wohl zu spät kommen. Darauf wird es allerdings auch nicht ankommen, wenn das Pariser Berufungsgericht sein Versprechen vom Dienstagabend einlöst, bis Sommer 2026 über die Berufung zu entscheiden. Denn dann ist ein gesondertes Vorgehen gegen den Sofortvollzug der Wahlsperre nicht nötig: Soweit das Berufungsgericht Le Pen recht gibt, ändert es das Urteil des Tribunal correctionnel ab – inklusive des Rechtsfolgenausspruchs. Dass dies so kommt, ist angesichts der als relativ klar geltenden Beweislage und des begrenzten Ermessensspielraums hinsichtlich der Unwählbarkeitsfolge jedoch mit großen Fragezeichen versehen.
Hinweis: Beitrag in einer aktualisierten Version vom 01.04.2025, 21:52 Uhr, mit Informationen, wann das Berufungsgericht entscheiden will. In einer früheren Version war im Text versehentlich unzutreffend von drei Milliarden Euro Schaden die Rede. Wir haben dies korrigiert (02.04.2025, 09:50 Uhr, mk).
Mit Material der dpa
Kann sie doch bei der Wahl antreten?: . In: Legal Tribune Online, 01.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56919 (abgerufen am: 22.05.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag