Bei den Mannheimer Europagesprächen suchten die Präsidenten von BVerfG und EuGH, Stephan Harbarth und Koen Lennaerts, nach Gemeinsamkeiten in der Diskussion um den Vorrang des EU-Rechts. Christian Rath war dabei.
Vor vier Jahren herrschte noch dicke Luft. In seinem Urteil zur Europäischen Zentralbank (EZB) warf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor, seine Rechtsprechung zu den Anleihe-Ankaufprogrammen der EZB sei "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar" und insofern ultra vires ergangen. Das Urteil des EuGH überschreite "offenkundig" sein Mandat.
Die EU-Kommission leitete wegen dieses Karlsruher Urteils ein Jahr später, im Mai 2021, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Die Bundesregierung reagierte im August 2021 mit einer Mitteilung, in der sie sich zum Vorrang des EU-Rechts bekannte und die Rechtsprechung des BVerfG in den europafreundlichsten Farben malte. Unerwähnt blieb dabei, dass das BVerfG weiterhin einen "uneingeschränkten Anwendungsvorrang" für EU-Recht ablehnt und seinen "Kontrollvorbehalt" im Juni 2021 ausdrücklich bekräftigt hatte.
Diese Schönwetter-Erklärung der Bundesregierung nahm die Kommission im Dezember 2021 zum Anlass, das Vertragsverletzungsverfahren sofort wieder einzustellen. Die Bundesrepublik habe nun ja den Vorrang des EU-Rechts anerkannt. Das war zwar einerseits ein Taschenspielertrick, andererseits lag die Sache aber wirklich deutlich anders als in Polen und Ungarn, wo eben auch die Regierungen den Vorrang des EU-Rechts offensiv in Frage stellten.
Die Frage nach dem Vorrang des EU-Rechts wird Europa möglicherweise bald wieder beschäftigen. Die EU-Kommission hat wegen zweier Urteile des polnischen Verfassungsgerichts im Juli 2023 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingereicht. Das polnische Gericht hatte 2022 in zwei Entscheidungen Vorgaben des EU-Rechts für verfassungswidrig erklärt und generell den Vorrang des EU-Rechts in Frage gestellt. Ein Termin für die Verhandlung ist noch nicht bekannt. Vielleicht kann auch hier die nun wieder europafreundliche polnische Regierung mit einem entsprechenden Bekenntnis zum Vorrang des EU-Rechts den Konflikt entschärfen.
Nach dieser noch recht aktuellen Vorgeschichte war das Aufeinandertreffen von Stephan Harbarth und Koen Lennaerts bei den Mannheimer Europagesprächen am Freitag ein guter Gradmesser für das derzeitige Ausmaß der Spannungen. Die Europagespräche werden organisiert vom Arbeitskreis Europäische Integration (AEI), einer überregionalen interdisziplinären wissenschaftlichen Organisation. Die Atmosphäre zwischen Harbarth und Lennaerts war ausgesprochen freundlich.
Harbarth lobt "umsichtige Reaktion" des EuGH auf polnische Justizreform
Harbarth lobte ausdrücklich die "umsichtige Reaktion" des EuGH auf die Justizreform in Polen. Er habe es geschafft, einen Mittelweg zwischen Scylla (dem Werteverfall) und Charybdis (einer
Kompetenzüberschreitung) zu finden. Denn eigentlich sei die Justizorganisation Sache der Mitgliedstaaten, die EU könne hier keine Vorgaben machen. Je mehr die EU die Unabhängigkeit der Gerichte schütze, umso geringer werden die Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten, so Harbarth.
Auch der Schutz der Unabhängigkeit der Justiz sei zunächst Aufgabe der nationalen Organe, insbesondere der nationalen Verfassungsgerichte, betonte Harbarth, "nur wenn die nationalen Safeguards versagen, kann der EuGH eingreifen". Denkbar sei, dass die Kompetenzen der nationalen Kontrolleure beschnitten wurden oder dass sie sogar "unterwandert" wurden und deshalb die Seiten wechseln. Harbarth beschrieb also eine subsidiäre Zuständigkeit des EuGH.
Harbarth zeigte sich so angetan von der Rechtsprechung des EuGH, dass er diese ausführlich referierte. So habe der EuGH seine Interventionen auf Art. 19 EU-Vertrag und Art. 47 der EU-Grundrechtecharta gestützt, die das Recht auf Rechtsbehelfe und die Unabhängigkeit der Justiz garantieren. Dabei habe der EuGH aber zu Recht einen "zurückhaltenden" Prüfungsmaßstab angewandt, lobte Harbarth, und nur Mindestanforderungen gesichert, nicht das Optimum angestrebt. Geschützt seien nur die "grundlegenden Funktionen" der Justiz, und auch diese nur bei hinreichend schweren Verstößen oder einer relevanten Gefahr missbräuchlicher Einflussnahme.
Die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten
Konkret habe der EuGH, so schilderte es Harbarth, darauf abgestellt, was im Zeitpunkt des Beitritts des Mitgliedstaats von der EU als rechtsstaatlich akzeptiert wurde. Dahinter dürfe der Staat nicht zurückfallen. Eine Weiterentwicklung wäre zwar wünschenswert, aber keine EU-rechtliche Pflicht.
Bei der Beurteilung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat betrachte der EuGH nicht nur das geschriebene Recht, sondern auch die praktischen Konventionen vor Ort, die ein höheres, aber auch ein niedrigeres Niveau als die jeweiligen Gesetze haben können.
Jedenfalls schaue der EuGH stets auf das Gesamtbild, referierte Harbarth weiter. Ein einzelner Punkt könne für sich rechtmäßig sein, etwa die Wahl von Richtern durch Legislative und Exekutive, das Gesamtbild könne aber dennoch problematisch werden, wenn Weiteres hinzukomme, etwa wenn eine ungewöhnliche Zahl neuer Richterstellen geschaffen wird.
Lennaerts hörte konzentriert zu (der Belgier spricht sehr gut Deutsch) und stellte anschließend fest. "Das war eine hervorragende Übersicht, das war genau das, was wir gemacht haben." Nur einen Punkt wollte er hinzufügen: Der EuGH spreche seit 2022 unter Bezug auf Art. 2 EU-Vertrag von der "Identität der EU", zu der neben anderen Werten auch die "Rechtsstaatlichkeit" gehöre.
Absoluter Vorrang des EU-Rechts?
Nicht ganz so harmonisch verlief die Diskussion zum zweiten großen Thema der Mannheimer Europagespräche. EuGH-Präsident Lennaerts schilderte, wie der EuGH in den 1960er-Jahren den Vorrang des EU-Rechts mit den Urteilen van Gend & Loos sowie Costa/ENEL entwickelte. Heute werde der Vorrang auch auf Erklärung Nr. 17 zum Lissabon-Vertrag von 2007 gestützt. Das EU-Recht sei damit aber nicht wirklich höherrangig, betonte Lennaerts, der ein großes Talent hat, auf Empfindlichkeiten anderer Rücksicht zu nehmen. Es gehe nur um eine Kollisionsregel. "Es ist ein Anwendungsvorrang."
Lennaerts warb dafür, die Vorrang-Frage nicht nur bilateral zwischen EU und Deutschland zu denken. "Der EU-Vertrag ist ein Vertrag von 27 Staaten. Die Pflicht zur Einhaltung des EU-Rechts besteht vor allem gegenüber den anderen 26 Mitgliedstaaten." Die EU könne nicht funktionieren, wenn einzelne Verfassungsgerichte bestimmte EU-Normen beanstanden. Schließlich sei es sehr unwahrscheinlich, dass die anderen Verfassungsgerichte die Rechtslage genauso einstufen.
Harbarth erinnerte daran, dass sein Gericht den grundsätzlichen Vorrang des Europarechts schon seit rund sechzig Jahren anerkenne, "und zwar auch vor dem nationalen Verfassungsrecht, was damals keine Selbstverständlichkeit war", betonte Harbarth.
BVerfG will "Verfassungsidentität" des GG schützen
Der Dissens mit dem EuGH liege darin, dass das BVerfG Ausnahmen vom Vorrang des EU-Rechts für denkbar hält. Harbarth begründete dies mit dem Trauma von Weimar, weshalb man eine Ewigkeitsgarantie für zentrale Verfassungsvorschriften ins Grundgesetz eingebaut habe. Wenn es aber Bundestag und Bundesrat auf keinen Fall möglich sei, diese unabänderlichen Teile des Grundgesetzes zu ändern, dann könne es auch nicht möglich sein, durch Kompetenzübertragungen auf die EU solche Eingriffe zu ermöglichen, argumentierte Harbarth.
Das BVerfG behalte sich daher das Recht vor, die "Verfassungsidentität" des Grundgesetzes zu schützen. Die Ultra Vires-Kontrolle und der Schutz der Grundrechte nach der Solange-Formel würden heute als Unterfälle des Schutzes der Verfassungsidentität gesehen. Der EuGH könne die deutsche Verfassungsidentität nicht wirksam schützen, da er eindeutig auf der Seite der EU stehe.
Hier wurde Lennaerts etwas reservierter: "Ich kann das nachvollziehen, halte es aber EU-rechtlich für problematisch."
Dialog ist die Lösung
Der EuGH-Präsident warb für dialogische Lösungen, wobei er vor allem an Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH dachte. "Wenn ein nationales Verfassungsgericht ein Problem mit seiner Verfassungsidentität sieht, soll es nicht einfach das EU-Recht beanstanden, sondern dann muss es den Fall dem EuGH vorlegen und sagen, wo es das Problem sieht", betonte Lennaerts.
Die Vorlage sei dann der Anstoß zu einer paneuropäischen Debatte, weil sich nun alle EU-Staaten beteiligen können. "Und bei wichtigen Fragen tun sie das auch", schilderte Lennaerts. Außerdem stelle der Wissenschaftliche Dienst des EuGH rechtsvergleichend die Lagen in den 27 Staaten zusammen.
"Es ist ausgesprochen erwünscht, dass das nationale Verfassungsgericht sagt, welche Lösung es für richtig hält", betonte Lennaerts. Der EuGH suche dann eine Kompromisslösung, die für alle Mitgliedstaaten tragbar ist. Gerade bei der Auslegung von EU-Recht versuche der EuGH oft nationale Regelungsmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume aufzuzeigen.
Wenn das nationale Verfassungsgericht dann immer noch nicht bereit sei, einzulenken, dann müsse es ein zweites Mal vorlegen, erläuterte der EuGH-Präsident. Er erinnerte auch an andere Formen der Dialoge, etwa Delegationsbesuchen oder die Mitarbeit von nationalen Richtern als Referenten am EuGH.
Harbarth brachte die Beziehung von EuGH und BVerfG auf eine pragmatische Formel: "Ein Spannungsverhältnis bleibt", sagte Harbarth. "Aber der Normalfall ist nicht Dissens und Streit, der Normalfall ist die gegenseitige Bereicherung." Niemand brauche sich deshalb Sorgen um die Zukunft Europas zu machen, betonte Harbarth. "Absolut", stimmte Lennaerts zu.
Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54455 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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