Für den Ex-Verteidiger des im Lübcke-Prozess Hauptangeklagten Stephan E. wird es ungemütlich: Hat er für seinen ehemaligen Mandanten rechtswidrig ein ganzes Lügenkonstrukt erschaffen? Felix W. Zimmermann erklärt, wie weit Anwälte gehen dürfen.
Für Frank Hannig muss es am Dienstag befremdlich gewesen sein, den Gerichtssaal beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt zu betreten. Noch Ende Juli betrat er diesen als Verteidiger von Stefan E., jetzt aber nahm er nicht mehr neben dem Hauptangeklagten im Mordfall Lübcke Platz, sondern auf dem Zeugenstuhl. Dort könnte er sich wie auf einer Anklagebank gefühlt haben, denn ihn erwarteten Fragen dazu, ob er seinen ehemaligen Mandanten E. zu einer Falschaussage riet - und diese womöglich sogar erfunden hatte.
Hannig war am 27. Juli zunächst als Verteidiger vom Gericht entpflichtet worden, wegen nicht abgesprochener Beweisanträge. Wenig später behauptete E. im Gerichtssaal: Hannig habe ihm empfohlen, den mitangeklagten Markus H. zu beschuldigen. E. hatte im Januar 2020 vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt, nicht er, sondern Markus H. habe den Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen, angeblich aus Versehen, als die beiden den CDU-Politiker wegen dessen Flüchtlingspolitik zur Rede stellen wollten.
Am 05. August präsentierte E. dann eine neue Tatversion: Zwar sei H. mit vor Ort gewesen, geschossen habe aber er, E., selbst. Der falsche Vorwurf gegenüber H. gehe auf eine Idee von Hannig zurück, der mit dieser Taktik H. zu einer Aussage bewegen wollte, behauptete E.
Warum das OLG wissen will, ob Hannig wirklich gelogen hat
Zu wissen, ob der falsche Vorwurf gegenüber H. wirklich Hannigs Idee war und er E. als Verteidiger dazu riet, ist für das OLG wichtig, um einschätzen zu können, wie glaubwürdig E. im Gesamtkontext des Lübcke-Prozesses ist. Entsprechend groß war die Spannung, als die Zeugenaussage von Hannig auf dem Verhandlungsprogramm stand.
Eigentlich verbietet die Schweigepflicht des Rechtsanwalts eine Aussage über das (auch ehemalige) Mandantenverhältnis. Doch E. entband Hannig von dieser Pflicht. Indes: Hannig schwieg am Dienstag trotzdem. Er berief sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Strafprozessordnung (StPO). Hiernach darf jeder Zeuge die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm in die Gefahr der Strafverfolgung bringen können.
Um zu bestimmen, wie weit dieses Auskunftsverweigerungsrecht reicht, gilt die vom Bundesgerichtshof (BGH) entwickelte Mosaiktheorie. Danach betrifft das Schweigerecht auch solche Fragen, durch deren wahrheitsgemäße Beantwortung ein Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude bekannt wird. Gemeint damit sind Fälle, in denen durch eine einzelne Aussage noch kein strafbares Verhalten offenbar wird, aber die Aussage gleichwohl im Zusammenhang mit anderen Tatsachen den Zeugen belastet.
Das OLG Frankfurt erkannte das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO an. Nur zur Frage, wie sich das Mandatsverhältnis zu E. angebahnt habe, musste Hannig aussagen -was jedoch wenige Erkenntnisse verschaffte.
Es ist nicht nur E., der Hannig belastet
Auch wenn Hannig von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte, ist damit der Vorwurf nicht aus der Welt, die Konsequenzen für ihn könnten nach wie vor weitreichend sein.
Wäre es nur die Aussage von E., die Hannig belastet, würde der Verdacht wohl nicht sonderlich schwer wiegen. Denn nachdem E. inzwischen drei völlig unterschiedliche Tatversionen präsentierte, dürfte jedem im Gerichtssaal klar sein, dass allein auf die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen nicht vertraut werden kann. Hinzu kommt, dass E. auch die Verantwortung für seine erste Aussage auf einen Verteidiger abwälzt: So hatte E. im Juli 2019 kurz nach der Festnahme gestanden, die Tat alleine verübt zu haben. Er behauptet mittlerweile, sein erster Verteidiger Dirk Waldschmidt, ein bekannter Anwalt aus der rechten Szene, habe ihm finanzielle Hilfe versprochen, wenn er die Schuld nur auf sich nehme. Die Schuld bei anderen zu suchen, könnte also bei Stefan E. Programm sein.
Allerdings gibt es im Fall Frank Hannig zwei weitere Zeugenaussagen, die die Erzählung von E., Hannig habe ihm zur Falschaussage geraten, stützen. Beide stammen von Strafverteidigern, die im Fall involviert sind oder es waren. So zog etwa der aktuelle Anwalt von E., Mustafa Kaplan, am 07. September die Robe aus, betrat selbst den Zeugenstand und sagte: Hannig habe ihm gegenüber eingeräumt, dass die neue von E. geschilderte Tatversion seine Idee gewesen sei.
Kaplan hatte auch einen möglichen Beleg dafür in der Tasche, dass Hannig seinem Mandanten E. womöglich unwahre Dinge behaupten lassen wollte. So zeigte Kaplan auf seinem Handy eine Notiz, die ihm Hannig zugeschickt habe. Darauf stand, dass E. vor Gericht über ein Telefonat mit seiner Frau berichten sollte. Doch das Telefonat hatte es nie gegeben. Kaplan will Hannig daraufhin zur Rede gestellt habe. Dieser soll zugegeben haben, dass das Telefonat seine Erfindung war, genauso wie auch die zweite Tatversion, in der er H. belastete.
"Ich war erst einmal verwundert, dass er das so einräumt, dass er eine Lüge produziert hat“, sage Kaplan im Prozess. Doch Hannig hätte ihm sinngemäß gesagt, ein Strafverteidiger dürfe ja lügen.
Wie weit ein Verteidiger in seinem Job gehen darf
Ob Hannig sich wirklich derart geäußert hat, ist auch nach der Verhandlung am Dienstag weiter offen.
Klar ist aber: Verteidiger dürfen nicht lügen. Ihre Stellung als Organ der Rechtspflege verpflichten sie zur Einhaltung der Berufsordnung, etwa der Wahrheitspflicht nach § 43 a III 2 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Auch die Strafgesetze haben Verteidiger zu beachten. Mit diesen können sie indes leicht in Konflikt geraten.
So ist etwa die Hoffnung eines schuldigen Mandanten geradezu darauf gerichtet, der Verteidiger möge ihn aus der Sache "rausholen". Strafvereitelung ist aus Mandantensicht oft geradezu die Aufgabe des Verteidigers. Doch rechtmäßig ist diese nicht. Nach § 258 StGB drohen jeder Person, mit Ausnahme von Tätern und Angehörigen, die eine Verurteilung wegen einer rechtswidrigen Tat* ganz oder teilweise verhindern, fünf Jahre Freiheitsstrafe. Auch die Verzögerung der Verurteilung kann unter Umständen hierunter fallen und auch der Versuch ist strafbar.
Die Abgrenzung zwischen zulässigem Verteidigungshandeln und strafbarer Strafvereitelung ist dabei nicht immer leicht zu ziehen. Sicher ist: Der Verteidiger darf alles, was ihm die StPO erlaubt. Ansonsten erfolgt die Abgrenzung vielfach anhand der Frage nach der sachlich-inhaltlichen Einflussnahme. Fehlt es an dieser, etwa wenn der Verteidiger seinem Mandanten von einem Geständnis abrät oder ihm zum Schweigen oder zur Flucht rät, ist das unproblematisch. Doch wenn die Empfehlung des Verteidigers über den Selbstschutz hinausgeht und er dabei sachlich-inhaltlich auf die Aussage des Mandanten einwirkt, könnte das Strafvereitelung sein.
Ein Verteidiger darf vor allem keine Falschaussage empfehlen oder gar am Aufbau eines Lügenkonstrukts mitwirken oder konkrete Tipps und Tricks über Fluchtmöglichkeiten erteilen. Auch dürfen Verteidiger die Wahrheitsforschung nicht durch aktive Verdunkelung und Verzerrung des Sachverhalts erschweren, Beweisquellen verfälschen oder unrichtige Auskunft über diese geben. Vor allem wenn sich der Mandant einer vom Verteidiger entworfenen Prozessstrategie unterordnet, wird der Verteidiger zur bestimmenden Zentralfigur des Geschehens und damit womöglich zum Täter einer Strafvereitelung.
StA prüft Strafverfolgung gegen Hannig
Was das Plädoyer angeht, darf ein Verteidiger zwar auf Freispruch plädieren, auch wenn er weiß, dass sein Mandant schuldig ist, etwa mit der Begründung, die Tat sei diesem nicht ordnungsgemäß nachgewiesen worden. Doch ihm bekannte Tatsachen darf der Verteidiger auch im Plädoyer nicht falsch darstellen.
Auch kann Verteidigungshandeln in Konflikt mit der Strafbarkeit der falschen Verdächtigung (§ 164) geraten. Ein Verteidiger, der seinem Mandanten wider besseres Wissen rät, eine andere Person zu beschuldigen, kann sich wegen Anstiftung (§ 26) strafbar machen.
Dies bestätigt auch die Kassler Staatsanwaltschaft (StA), die für die Strafverfolgung im Fall Hannig zuständig wäre. Sie hat in der Sache nun einen Prüfvorgang angelegt. In einer Stellungnahme erklärt sie, sie stehe in Kontakt mit der Bundesanwaltschaft und werde nach Eingang weiterer Details bewerten, ob ein Ermittlungsverfahren gegen Hannig eingeleitet wird. Sollten sich die Vorwürfe erhärten und Hannig hiernach sogar strafrechtlich verurteilt werden, droht ihm nicht nur eine Freiheitsstrafe, sondern nach § 70 StGB auch ein zeitlich begrenztes Berufsverbot.
Update: StA hat Ermittlungsverfahren eingestellt
Ein gegen Hannig eingeleitetes Ermittlungsverfahren hat die StA Kassel nach LTO-Informationen bereits Mitte April 2022 mangels hinreichenden Tatverdachts gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Die belastenden Angaben seines ehemaligen Mandanten haben der Strafverfolgungsbehörde für weitere Maßnahmen nicht ausgereicht, weil das OLG Frankfurt am Main das zweite Geständnis von Stephan E. aus der Hauptverhandlung in seiner Beweiswürdigung explizit als unglaubwürdig bezeichnet hat. Weitere Beweise, die den Anfangsveracht aufrecht erhalten konnten, konnten bei den Ermittlungen nicht erhoben werden.
Anm. d. Red.: Zunächst hieß es unzutreffend an dieser Stelle "rechtswidrige Verurteilung", geändert am 24.09.2020, 17.36 Uhr.
Update vom 16.08.2022, 11.55 Uhr.
Lügentaktik im Mordprozess Lübcke?: . In: Legal Tribune Online, 23.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42878 (abgerufen am: 09.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag