Die Bundestagsfraktion der SPD stellte am Dienstag ein Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Betreuungsgeldes vor. Seine Einführung würde gegen die Freiheit der Familie und den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, meint der Verfasser Joachim Wieland. Im LTO-Interview erklärt er, warum der Bund nicht einmal zuständig ist und dass schließlich auch niemand Geld dafür bekommt, dass er die Stadtbibliothek nicht nutzt.
LTO: Herr Professor Wieland, würde mit dem geplanten Entwurf zum Betreuungsgeld eines der nächsten Gesetze beschlossen, bei dessen Einführung schon klar ist, dass es in Karlsruhe gekippt werden wird?
Wieland: Ja. Aus meiner Sicht ist eindeutig, dass das Gesetz gegen mehrere Grundrechte verstößt und deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) keinen Bestand haben wird.
LTO: Gleich aus mehreren Gründen halten nicht nur Sie das Betreuungsgeld für verfassungswidrig. In materieller Hinsicht sehen Sie darin einen Verstoß gegen die Freiheit der Familie, konkret die so genannte Betreuungsfreiheit, die Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) garantiert. Wieso?
Wieland: Art. 6 Abs. 1 GG garantiert auch die Freiheit der Familie von staatlichem Einfluss. Das BVerfG hat in mehreren Entscheidungen hervorgehoben, dass es allein der Familie überlassen bleiben muss, wie sie die Erziehung ihrer Kinder organisieren will. Ob sie das alleine macht, ob sie Dritte einschaltet oder ob sie öffentliche geförderte Betreuungseinrichtungen nutzt, darf der Staat nicht beeinflussen. Genau das tut er aber mit dem Betreuungsgeld. Es wird ein Anreiz geschaffen, eine bestimmte Form der Betreuung zu nutzen, nämlich die private. Der Staat verstößt damit auch gegen seine Neutralitätspflicht.
LTO: Gewährleistet aber das Betreuungsgeld nicht erst die Möglichkeit, frei – und ohne finanzielle Zwänge – zu entscheiden, wie man sein Kind betreuen will?
Wieland: Nein, das leuchtet mir nicht ein. Bezahlen müssen ja die Eltern, die ihre Kinder in eine Kita bringen. Sie sind diejenigen, die in einer finanziell schwierigeren Situation sind. Das Geld kriegen aber diejenigen, die Betreuungseinrichtungen nicht nutzen und damit entsprechende Kosten gar nicht erst haben. Außerdem wird das Betreuungsgeld auch gezahlt, wenn beide Elternteile berufstätig sind. Es ist gerade nicht Voraussetzung, dass man seine Kinder selbst betreut. Man darf nur keine öffentliche Einrichtung in Anspruch nehmen.
"Wer die Stadtbibliothek nicht nutzt, kriegt auch kein Geld, um sich Bücher zu kaufen"
LTO: Laut Ihrem Gutachten verstieße das Gesetz, würde es wie derzeit im Entwurf vorgesehen verabschiedet, auch gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Warum?
Wieland: Die Regelung behandelt Familien, die öffentliche Einrichtungen benutzen, schlechter als jene, die ihre Kinder nicht in eine Kita bringen. Diese Betreuungseinrichtungen werden aber aus Steuergeldern finanziert. Das heißt, jeder Bürger hat durch seine Steuerzahlungen bereits seinen Beitrag für ein solches Angebot erbracht. Es ist unzulässig, dass der Staat jetzt Geld verschenkt und sagt, wenn du mein Angebot nicht nutzt, dann gebe ich dir Geld.
Wenn man das übertragen würde, könnte man sagen, jemand, der die Stadtbibliothek nicht nutzt, kann Geld dafür verlangen, dass er sich selber Bücher kauft. Oder jemand, der nur über Landstraßen fährt, kann sagen, ich will Geld dafür, dass ich die Autobahn nicht abnutze. Man kann das auf sämtliche Infrastruktureinrichtungen des Staates übertragen. Und das zeigt, dass das kein tragfähiger Rechtfertigungsgrund sein kann. Vielmehr bevorzugt der Staat hier eine Gruppe von Bürgern finanziell und das ist unzulässig.
LTO: Warum sehen Sie es nicht als förderungswürdigen Zweck an, Eltern zu unterstützen, die ihr Kind selbst und daheim erziehen möchten? Eine Ungleichbehandlung verschiedener Modelle der Kindererziehung ist doch einer Rechtfertigung durchaus zugänglich. Warum darf der Staat die Erziehung von Kindern, also Familienarbeit, Ihrer Meinung nach nicht honorieren?
Wieland: Weil das eine Subventionierung einer bestimmten Form der Kinderbetreuung wäre, was das BVerfG in mehreren Entscheidungen für unzulässig erklärt hat. Der Staat darf sich da nicht einmischen.
LTO: Sie sehen außerdem Art. 3 Abs. 2 GG verletzt, der die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen vorschreibt. Das Betreuungsgeld liefere einen finanziellen Anreiz, die Berufstätigkeit zu unterbrechen – und das täten in aller Regel weit überwiegend noch immer die Frauen. Aber müssen Frauen wirklich vor ihrer eigenen Entscheidung geschützt werden, zu Hause zu bleiben?
Wieland: Die Karlsruher Richter haben mehrfach darauf hingewiesen, dass in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit immer noch ganz überwiegend die Frauen Kinder erziehen und dafür aus ihrem Beruf ausscheiden. Später haben sie deshalb dann schlechtere Karrierechancen oder sind im Fall einer Scheidung nicht so gut versorgt.
LTO: Das Betreuungsgeld ist aber nicht die Ursache dieses Problems.
Wieland: Nein, die Ursache ist es nicht. Aber es verstärkt diese gesellschaftliche Rollenverteilung, statt sie abzubauen, wie es unsere Verfassung will.
Betreuungsgeld in Thüringen führt nicht zu eklatanten Missständen
LTO: Die Bundestagsfraktion der SPD kritisiert auch, dass der Bundesgesetzgeber schon gar keine Kompetenz für das Betreuungsgeld habe. Stimmen Sie dem zu?
Wieland: Ich glaube, dass die Zuständigkeit ein ziemliches Problem aufwirft. Der Bundesgesetzgeber ist in diesem Bereich nämlich nur zuständig, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.
Und das BVerfG hat in einigen Entscheidungen aus dem Bildungsbereich, zum Beispiel zur Zulässigkeit von Studiengebühren, sehr hohe Anforderungen daran gestellt, wann ein Bundesgesetz erforderlich ist. Die Verfassungsrichter fordern, dass ein gesellschaftlicher Missstand herrscht, der so nicht länger fortbestehen kann und den notwendigerweise der Bundesgesetzgeber beheben muss. Solange ein solcher Missstand aber nicht besteht, bleibt die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern.
Thüringen zahlt aber nun ja schon seit längerem ein Betreuungsgeld und ich habe nicht den Eindruck, dass dadurch die Lebensverhältnisse in Deutschland so unterschiedlich sind, dass ein eklatanter Missstand entstanden ist.
LTO: Elf Bundesländer haben angekündigt, gegen die Einführung des Betreuungsgeldes vorgehen zu wollen, Hamburg hat bereits vor einigen Wochen angekündigt, im Zweifel einen Normenkontrollantrag zu stellen. Sind noch weitere Maßnahmen geplant?
Wieland: Nach meinen Informationen wird Hamburg einen Normenkontrollantrag stellen. Außerdem bemüht sich die Bundestagsfraktion der SPD gegenwärtig um eine Allianz mit den Grünen, weil die Sozialdemokraten alleine einen abstrakten Normenkontrollantrag nicht stellen können. Sie brauchen dazu nämlich ein Viertel der Abgeordneten des Bundestags. Mein Eindruck war heute bei der Pressekonferenz, dass man diesen Antrag stellen wird, wenn das Viertel zustande kommt.
"Erweitertes Kindergeld wäre dagegen mit Grundgesetz vereinbar"
LTO: Gäbe es aus Ihrer Sicht eine verfassungskonforme Alternative zum Betreuungsgeld? Wenn ja, wie sähe diese aus?
Wieland: Verfassungskonform wäre meiner Ansicht nach eine stärkere Kinderförderung. Alle Eltern sollten Geld bekommen, unabhängig davon, wie sie ihre Kinder betreuen, um die finanziellen Lasten, die Kinder mit sich bringen, auszugleichen. Damit würde der Staat seiner Neutralitätspflicht nachkommen. Auch das Gleichstellungsverbot würde nicht verletzt.
LTO: Also ein Kindergeld, das es doch jetzt schon gibt? Oder etwas darüber hinaus?
Wieland: Im Moment gibt es einen Kinderfreibetrag, der aus meiner Sicht auch steuerrechtlich problematisch ist, weil er größere Vorteile für diejenigen bietet, die ein höheres Einkommen haben. Wer diesen Kinderfreibetrag nicht ausreizen kann, der bekommt schon heute als Sozialleistung ein Kindergeld. Aber ich könnte mir so etwas wie ein erweitertes Kindergeld vorstellen. Für jedes Kind sollte Eltern der gleiche Betrag gewährt werden und zwar ganz unabhängig von Kinderfreibeträgen und Betreuungsentscheidungen innerhalb der Familie.
LTO: Herr Professor Wieland, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führten Dr. Claudia Kornmeier und Pia Lorenz.
Joachim Wieland, Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Betreuungsgelds: "Der Staat darf sich nicht in die Kindererziehung einmischen" . In: Legal Tribune Online, 29.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6948/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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