Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Betreuungsgelds: "Der Staat darf sich nicht in die Kindererziehung einmischen"

Interview mit Prof. Dr. Joachim Wieland

29.08.2012

LTO: Sie sehen außerdem Art. 3 Abs. 2 GG verletzt, der die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen vorschreibt. Das Betreuungsgeld liefere einen finanziellen Anreiz, die Berufstätigkeit zu unterbrechen – und das täten in aller Regel weit überwiegend noch immer die Frauen. Aber müssen Frauen wirklich vor ihrer eigenen Entscheidung geschützt werden, zu Hause zu bleiben?

Wieland: Die Karlsruher Richter haben mehrfach darauf hingewiesen, dass in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit immer noch ganz überwiegend die Frauen Kinder erziehen und dafür aus ihrem Beruf ausscheiden. Später haben sie deshalb dann schlechtere Karrierechancen oder sind im Fall einer Scheidung nicht so gut versorgt.

LTO: Das Betreuungsgeld ist aber nicht die Ursache dieses Problems.

Wieland: Nein, die Ursache ist es nicht. Aber es verstärkt diese gesellschaftliche Rollenverteilung, statt sie abzubauen, wie es unsere Verfassung will.

Betreuungsgeld in Thüringen führt nicht zu eklatanten Missständen

LTO: Die Bundestagsfraktion der SPD kritisiert auch, dass der Bundesgesetzgeber schon gar keine Kompetenz für das Betreuungsgeld habe. Stimmen Sie dem zu?

Wieland: Ich glaube, dass die Zuständigkeit ein ziemliches Problem aufwirft. Der Bundesgesetzgeber ist in diesem Bereich nämlich nur zuständig, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.

Und das BVerfG hat in einigen Entscheidungen aus dem Bildungsbereich, zum Beispiel zur Zulässigkeit von Studiengebühren, sehr hohe Anforderungen daran gestellt, wann ein Bundesgesetz erforderlich ist. Die Verfassungsrichter fordern, dass ein gesellschaftlicher Missstand herrscht, der so nicht länger fortbestehen kann und den notwendigerweise der Bundesgesetzgeber beheben muss. Solange ein solcher Missstand aber nicht besteht, bleibt die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern.

Thüringen zahlt aber nun ja schon seit längerem ein Betreuungsgeld und ich habe nicht den Eindruck, dass dadurch die Lebensverhältnisse in Deutschland so unterschiedlich sind, dass ein eklatanter Missstand entstanden ist.

LTO: Elf Bundesländer haben angekündigt, gegen die Einführung des Betreuungsgeldes vorgehen zu wollen, Hamburg hat bereits vor einigen Wochen angekündigt, im Zweifel einen Normenkontrollantrag zu stellen. Sind noch weitere Maßnahmen geplant?

Wieland: Nach meinen Informationen wird Hamburg einen Normenkontrollantrag stellen. Außerdem bemüht sich die Bundestagsfraktion der SPD gegenwärtig um eine Allianz mit den Grünen, weil die Sozialdemokraten alleine einen abstrakten Normenkontrollantrag nicht stellen können. Sie brauchen dazu nämlich ein Viertel der Abgeordneten des Bundestags. Mein Eindruck war heute bei der Pressekonferenz, dass man diesen Antrag stellen wird, wenn das Viertel zustande kommt.

"Erweitertes Kindergeld wäre dagegen mit Grundgesetz vereinbar"

LTO: Gäbe es aus Ihrer Sicht eine verfassungskonforme Alternative zum Betreuungsgeld? Wenn ja, wie sähe diese aus?

Wieland: Verfassungskonform wäre meiner Ansicht nach eine stärkere Kinderförderung. Alle Eltern sollten Geld bekommen, unabhängig davon, wie sie ihre Kinder betreuen, um die finanziellen Lasten, die Kinder mit sich bringen, auszugleichen. Damit würde der Staat seiner Neutralitätspflicht nachkommen. Auch das Gleichstellungsverbot würde nicht verletzt.

LTO: Also ein Kindergeld, das es doch jetzt schon gibt? Oder etwas darüber hinaus?

Wieland: Im Moment gibt es einen Kinderfreibetrag, der aus meiner Sicht auch steuerrechtlich problematisch ist, weil er größere Vorteile für diejenigen bietet, die ein höheres Einkommen haben. Wer diesen Kinderfreibetrag nicht ausreizen kann, der bekommt schon heute als Sozialleistung ein Kindergeld. Aber ich könnte mir so etwas wie ein erweitertes Kindergeld vorstellen. Für jedes Kind sollte Eltern der gleiche Betrag gewährt werden und zwar ganz unabhängig von Kinderfreibeträgen und Betreuungsentscheidungen innerhalb der Familie.

LTO: Herr Professor Wieland, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Dr. Claudia Kornmeier und Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

Joachim Wieland, Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Betreuungsgelds: "Der Staat darf sich nicht in die Kindererziehung einmischen" . In: Legal Tribune Online, 29.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6948/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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