Das System Gaddafi ist am Ende. Die Libyer müssen nun ein Land aufbauen, das über Jahrzehnte keine Verfassung hatte und ohne Kabinett und Regierung diktatorisch gelenkt wurde. Die Visionen der Zeit nach der Revolution reichen von Chaos und Bürgerkrieg bis zum geordneten Aufbau mit demokratischen Wahlen. Die EU muss sich zurückhaltend beteiligen, meint Timo Tohidipur.
Revolutionen, Aufstände und Rebellionen tragen neben freiheitlichen Idealen immer auch ein Element des Selbstzerstörerischen mit sich und münden nicht selten im Chaos. So gerecht und legitim die Befreiung von den alten repressiven Machtstrukturen im eigenen Land auch sein mag, so schwierig ist die darauffolgende Einleitung eines konstruktiven Prozesses des libyschen (Wieder-)Aufbaus. Denn letztlich sind alle Seiten des Konflikts, Gegner wie Unterstützer des alten Regimes, Teil des nun zu reanimierenden Gemeinwesens.
Der militärische Sieg über das System Gaddafi ist der erste Schritt in Richtung der Neugestaltung Libyens zum Nutzen seiner Bürger. Der verlustreichen Beseitigung der bisherigen staatlichen Strukturen muss nun ein konstruktiver Aufbau folgen. Die EU ist hier in besonderer Verantwortung, da sie nicht zuletzt bezüglich ihrer Migrationspolitik sehr vom "System Gaddafi“ profitiert hatte. Das militärisch ausgerichtete Handeln von UN und NATO muss nun in einen konstruktiven Prozess übergehen.
EU und NATO müssen selbstkritisch ihre Vorbildfunktion hinterfragen
Die wichtigste Aufgabe der Übergangszeit nach dem Sturz der Regenschaft ist die Befriedung. Anders als in den nordafrikanischen Nachbarstaaten, kam es in Libyen zu einem regelrechten Krieg und durch die Intervention und Waffenlieferungen der NATO auch zu einer starken Aufrüstung der zivilen Gesellschaft. Die Aufständischen sahen sich immerhin einem Militärapparat gegenüber, der noch bis vor kurzem von denselben Staaten, die nun auf der Grundlage des UN-Beschlusses gegen Gaddafi intervenierten, bewaffnet wurde. Das elementare Ziel ist also die Kontrolle der ungezählten kursierenden Waffen.
Auch in Bezug auf die geplante Zusammenarbeit von EU und NATO beim Wiederaufbau des Landes ist ein selbstkritischer Blick notwendig. Das militärische Engagement der letzten Wochen war jenseits oder zumindest im Grenzbereich der Legalität. Es wird schwierig, die Wichtigkeit der Einhaltung internationalen Rechts und der Menschenrechte zu betonen, wenn die eigene Vorbildfunktion schwindet.
Politisch steht das Land vor großen Herausforderungen. Diese hat insbesondere der hierfür errichtete Nationale Übergangsrat zu schultern. Dieses Kollektiv besteht aus über 30 Vertretern aus fast allen Teilen des Landes und versucht, dem Anspruch einer repräsentativ für das gesamte Volk handelnden Institution gerecht zu werden. Die Übergangszeit soll etwas 20 Monate andauern. Bereits jetzt ist ein Urnengang in acht Monaten angekündigt. Es wird entscheidend sein, wie diese Form der Reorganisation im Volk, bei den Menschen in Libyen, ankommt.
Libyen könnte ein echter "Staat der Massen" werden
Die Sicht internationaler Beobachter ist ambivalent Der europäische und nordamerikanische Raum betont die Gefahr einer Zersplitterung des Staates Libyen, den Rückfall in ein von Stammesstrukturen geprägten Gemeinwesen, das nur schwer zu einigen sein wird, oder sogar eines Bürgerkriegs. Demgegenüber äußern vor allem Kommentatoren, die dem arabisch-islamischen Raum zuzuordnen sind, dass in Libyen durchaus das Potential für eine nationale Bewegung besteht, die einer Neuordnung auf der Basis einer Verfassung aufgeschlossen gegenübersteht.
Immerhin hat Libyen in der postkolonialen Zeit seit 1951 unterschiedliche Erfahrungen der Organisation des Staates durchlaufen. Im Kern geht es um zwei Phasen. Die erste stellt die seitens der UN erarbeiteten föderalen Verfassung bei gleichzeitiger Einsetzung eines Königs dar. Der spätere Zeitraum wird durch die Fokussierung auf ein islamisch geprägtes Staatsmodell unter dem Einfluss von Gaddafi geprägt.
Das libysche Staatsmodell basierte in offizieller Lesart auf seiner Idee des "Staates der Massen" (Jamahiriya), ohne dies in einem Verfassungstext niedergelegt zu haben..Dies könnte – positiv betrachtet – als die Idee einer direkten Einbindung der Bürger in sozialistischer Absicht verstanden werden. Die Realität zeichnete ein anderes Bild. Die faktische Macht liegt in den Händen von Muammar al-Gaddafi, der in diesem Kontext zur eigenen Legitimation verstärkt auf islamische Traditionen zurückgegriffen hat. Parteien waren nicht zugelassen. Es galt Gaddafis so genanntes Grünes Buch, in dem der Diktator auch feststellte, dass niemand auf der Welt eine solche Freiheit wie die Libyer genieße.
Wiederaufbau verlangt nach Volkeswillen und EU
Die vor wenigen Tagen veröffentlichte "Constitutional Declaration" des Nationalen Übergangsrates verdeutlicht, dass neben der deutlich gewollten mitwirkenden Einbindung der Bürger samt einem notwendigen bildungspolitischen Engagement, auch in Zukunft der Islam eine Rolle in der Organisation des Staates spielen wird. Solche Vorhaben müssen der Selbstbestimmung des Volkes überlassen bleiben.
Die EU hat das nun beseitigte Regime als Kooperationspartner bei der Migrationspolitik lange und deutlich hofiert. Sie hat zudem von der restriktiven Grenzpolitik insoweit profitiert, als der Flüchtlingsweg von Libyen über das Mittelmeer versperrt wurde. Gerade Italien und das mit starkem militärischem Druck handelnde Frankreich hegten bilateral gute Beziehungen. Die EU wird im Gegenzug für ihr Engagement vermutlich versuchen, an diese Grenzpolitik anzuknüpfen, während offen ist, wie die nordafrikanischen Staaten reagieren.
Denkbar wäre sogar, dass die nordafrikanischen Staaten mit ihrer bisherigen Politik brechen und sich zu einem Experiment mit offenen Grenzen und einer freien Verkehr von Menschen und Gütern hinwenden. Dies dürfte einem konstruktiven Beitrag der EU, der die Libyer in dem von ihnen gewählten Kurs beim Aufbau effektiver Institutionen sowie wirtschaftspolitisch unterstützt, nicht entgegenstehen.
Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Öffentliches Recht der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
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Timo Tohidipur, Libyens Zukunft: . In: Legal Tribune Online, 25.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4116 (abgerufen am: 08.12.2024 )
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