"Neuland in der Rechtsprechung": Land­ge­richt Erfurt erkennt erneut Rechte der Natur an

von Dr. Max Kolter und Dr. Franziska Kring

23.10.2024

Ein Zivilgericht gewährt einem Dieselkäufer Schadensersatz in Höhe von zehn Prozent des Kaufpreises. Klingt nach einem Fall wie jeder andere, ist aber doch Neuland – zwar nicht wissenschaftlich, "wohl aber in der Rechtsprechung".

Anfang August fällte die 8. Zivilkammer des Landgerichts (LG) Erfurt ein bemerkenswertes Urteil in einem alltäglichen Fall: Sie erkannte ausdrücklich an, dass die Natur eigene Rechte besitzt, die auch in privatrechtlichen Streitigkeiten zu berücksichtigen seien. Konkret wirkten die Eigenrechte der Natur bei der Berechnung des Schadensersatzanspruchs eines Autokäufers "schutzverstärkend". Die Rechte der Natur ergäben sich aus der EU-Grundrechtecharta (Az. 8 O 1373/21). Das hatte, wie LTO ausführlich berichtete, in dieser Form noch kein deutsches Gericht so entschieden.

Dieser Entscheidung ließ die 8. Zivilkammer in der vergangenen Woche nun ein zweites, im Wesentlichen inhaltsgleiches Urteil (v. 17.10.2024, Az. 8 O 836/22) folgen – mit vertiefter Begründung.

Beide Fälle betreffen eine Klage, wie sie in den Jahren seit Bekanntwerden des Abgasskandals bei VW 2015 in Zehntausenden von Fällen erhoben worden ist: Der Käufer eines Fahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung – hier jeweils ein Thermofenster – verlangte Schadensersatz vom Hersteller. Diesen gewährte das LG den Käufern in beiden Fällen in Höhe von zehn Prozent des Originalkaufpreises. Damit blieb es genau in der Mitte des vom Bundesgerichtshof (BGH) 2023 für diese Klagen gesetzten Rahmens von fünf bis 15 Prozent.

LG "betritt in der Rechtsprechung Neuland"

In beiden Fällen musste das LG im Detail darüber entscheiden, ob das jeweils verbaute Thermofenster überhaupt eine unzulässige Abschalteinrichtung ist und inwiefern die Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs den Schadensersatz "aufgezehrt" haben. Doch nahm das federführende Kammermitglied Dr. Martin Borowsky die Fälle zum Anlass, sich seitenlang zu den Eigenrechten der Natur auszulassen. In dem zweiten Urteil nun vertiefte er seine Ausführungen zur Herleitung der Rechte der Natur und ihrer mittelbaren Wirkung im Privatrecht.

"Bei der konkreten Schadensbemessung ist als ein wesentliches Kriterium zu berücksichtigen, dass die Beklagte Eigenrechte der Natur verletzt hat, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben", so leitet Borowsky die Prüfung ein, die sich auf insgesamt 77 von 110 Absätzen erstreckt. Dabei lässt er sich nicht davon abhalten, dass die Rechte der Natur in der EU-Grundrechtecharta sowie im sonstigen primären und sekundären Unionsrechte "bisher noch nicht ausdrücklich verankert" sind. Vielmehr ist sich die Kammer bewusst, dass mit dieser Auslegung der Unionsgrundrechte und des deutschen Privatrechts "zwar nicht in wissenschaftlicher Hinsicht, wohl aber in der Rechtsprechung Neuland betreten wird". Auf die Absicht der Kammer, Rechte der Natur hier zu berücksichtigen, seien die Parteien in der Terminsverfügung, der mündlichen Verhandlung sowie per Hinweisbeschluss informiert worden.

Umfassend zeigt sich Borowsky in seinem Urteil besorgt über die "Artensterben, Globalvermüllung und Klimakatastrophe". Unter Bezugnahme auf den Soziologen Max Weber argumentiert er, es entspreche einem "verantwortungsethischen Impetus, auch rechtliche Wege aus der Krise zu suchen und zu beschreiten". Und: "Die Rechte der Natur sind ein solcher Weg." Allerdings einer, der sich im Unionsrecht eben bislang nicht findet.

Aktiengesellschaften und KI sollen rechtsfähig sein, die Natur aber nicht?

Diese Hürde versucht Borowsky damit zu nehmen, dass er auf einzelne mitgliedstaatliche Rechtsordnungen verweist, die die Rechte der Natur schon anerkennen, wie zum Teil in Spanien (Mar Menor) sowie in Frankreich (Neukaledonien). Zudem nimmt er auf das "Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework" Bezug, das die EU mittrage und wonach Rechte der Natur "von zentraler Bedeutung für die menschliche Existenz und eine hohe Lebensqualität" seien.

Zudem argumentiert das LG damit, dass die Natur selbst Grundrechtsträgerin sein kann. Denn "Personen" im Sinne der Grundrechtecharta seien nicht nur Menschen, sondern auch die Natur oder Ökosysteme wie Flüsse oder Wälder. Zahlreiche Sprachfassungen der EU-Grundrechtecharta verwendeten im ersten Titel der Charta mit den fundamentalen Rechten nicht den Begriff "Mensch", sondern den deutungsoffenen Begriff "Person" bzw. "personne" (französische Version) oder "everyone" (englische Version).

Für nicht überzeugend hält das Gericht, juristische Personen wie Aktiengesellschaften oder Vereine als Personen anzusehen, nicht aber die Natur im Ganzen oder Teile davon als rechtsfähig anzuerkennen. In dem Zusammenhang weist die Kammer auch auf Zukunftspläne in der EU hin, Künstlicher Intelligenz Rechtsfähigkeit einzuräumen.

 

  • Das erste Urteil des LG Erfurt zu den Rechten der Natur war im August schon Thema in Episode 13 der "Rechtslage", dem LTO-News-Podcast:

Äußert sich bald der EuGH dazu?

In dem Vorstoß, die Rechte der Natur im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung anzuerkennen, sieht die 8. Zivilkammer keinen Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung. Es sei zwar "vorzugswürdig und wünschenswert, Rechte der Natur im Wege einer Vertragsreform oder über die unionale Gesetzgebung in das Unionsrecht einzuführen. Eine vorausgehende richterrechtliche Anerkennung ist gleichwohl nicht unzulässig." Damit würde die EU auch im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten ihre Kompetenzen nicht überschreiten. Diese Fragen dem Europäischen Gerichtshof vorlegen wollte das LG hier allerdings nicht.

Ob diese Rechtsprechung in höheren Instanzen Bestand haben wir, ist offen. Rechtskräftig ist die Entscheidung des LG vom 17. Oktober noch nicht. Auch das Urteil von Anfang August ist nicht rechtskräftig geworden; die Berufung ist beim Thüringer Oberlandesgericht (OLG) in Jena anhängig. Ob das OLG die Ausführungen zu den Rechten der Natur beanstanden oder bestätigen wird, bleibt abzuwarten. Womöglich geht es auch gar nicht darauf ein, sondern begründet die angemessene Schadenshöhe im Korridor zwischen fünf und 15 Prozent des Kaufpreises in anderer Weise.

Ein weiteres von Borowskys Diesel-Verfahren liegt derzeit beim EuGH (Az. C-276/20). Auch im Vorlagebeschluss thematisiert die 8. Zivilkammer die Rechte der Natur. Klären soll der EuGH, ob es mit der EU-Grundrechtecharta – u.a. mit den "aus ihr begründeten Eigenrechten der Natur" – vereinbar wäre, wenn sich der Schadensersatzanspruch eines Käufers im Ergebnis "auf null" reduziert, nachdem Vorteile angerechnet worden sind. Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH sich zu dieser Frage verhalten wird.

Zitiervorschlag

"Neuland in der Rechtsprechung": . In: Legal Tribune Online, 23.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55692 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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