Die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke wird mit Sicherheit ein juristisches Nachspiel haben. Normenkontrollklagen vor dem Bundesverfassungsgericht sind bereits angekündigt. Hauptstreitpunkt ist die Zustimmungsbedürftigkeit der Atomnovelle im Bundesrat. Zusätzliche Bedenken aufgrund des europäischen Wettbewerbsrechts erscheinen dagegen weit hergeholt.
Es geschieht selbst in der Politik nicht allzu häufig, dass die gerichtlichen Klagen schon vorbereitet sind und ihre Einreichung praktisch feststeht, noch bevor überhaupt die politische Entscheidung gefallen ist. Wenn es hart auf hart geht, gehört das juristische Arsenal freilich zur argumentativen Ausrüstung der politischen Entscheidungsträger wie selbstverständlich dazu. Die gesetzliche Laufzeitverlängerung für die in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke ist ein solcher Fall.
Die SPD-Opposition hat bereits angekündigt, eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben zu wollen, und will sich dafür auch auf inhaltliche Kritikpunkte wie die Vernachlässigung von Sicherheitsstandards und die ungeklärte Endlagerfrage stützen.
Ihr hauptsächlicher und potentiell erfolgversprechendster Ansatzpunkt wird jedoch die behauptete Zustimmungsbedürftigkeit der Atomnovelle im Bundesrat sein. Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat diese Zustimmungsbedürftigkeit gerade aus der Sicht der Mehrheit, mit neun zu sechs Stimmen bei einer Enthaltung entlang den parteipolitischen Linien, ausdrücklich festgestellt. Daneben werden vor allem von Seiten der Grünen jetzt noch europarechtliche Bedenken vorgebracht.
Das Problem der Zustimmungsbedürftigkeit
Die Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes könnte sich aus Art. 87c Grundgesetz (GG) ergeben, der für die Kernenergie grundsätzlich – mit Zustimmung des Bundesrates – die Konstruktion der Bundesauftragsverwaltung vorsieht. Allerdings geht es im vorliegenden Fall nur um eine Novelle des bereits bestehenden Atomgesetzes und nur um eine zeitliche Hinausschiebung der vorgesehenen Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke. Damit stellt sich die aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sattsam bekannte Frage, ob die bloße Verlängerung einer den Ländern bereits wirksam übertragenen Verwaltungsaufgabe erneut die Zustimmungspflicht auslösen kann.
Das Verfassungsgericht nimmt dies an, wenn die Verlängerung aufgrund ihrer faktischen Bedeutung und Tragweite einer qualitativen Veränderung der Länderaufgaben gleichkommt. Das wird die Opposition vortragen und argumentieren, die zeitliche Ausdehnung der den Ländern nach dem Atomgesetz obliegenden Überwachungsaufgaben verändere ihre administrative Inanspruchnahme in erheblicher Weise. Die Bundesregierung wird diese Ausdehnung demgegenüber als relativ marginale quantitative Veränderung präsentieren.
Wo das Verfassungsgericht in diesen Fallkonstellationen die Grenze zieht, ab der Quantität in Qualität umschlägt, ist immer eine Frage des Einzelfalls und daher für den konkreten Streit nicht verläßlich vorhersagbar. Für die Auguren des Karlsruher Kaffeesatzes werden die kommenden Monate daher ein willkommenes Beschäftigungsprogramm bereithalten.
Europarechtliche Bedenken
Diese Unsicherheit bezüglich des Ausgangs ihrer verfassungsgerichtlichen Klage läßt die Opposition nach weiteren juristischen Angriffspunkten suchen. Bei dieser Suche glaubt sie jetzt im europäischen Wettbewerbsrecht fündig geworden zu sein, konkret in Art. 106 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Nach dieser Vorschrift gelten die europäischen Wettbewerbsregeln grundsätzlich auch für öffentliche Unternehmen und für Unternehmen, denen die Mitgliedstaaten besondere Rechte gewähren.
Es ist aber schon sehr fraglich, inwieweit die großen Energieversorger, die auch die deutschen Kernkraftwerke betreiben, überhaupt noch unter diese Vorschrift fallen. Zwar mögen sie faktisch den deutschen Elektrizitätsmarkt überwiegend beherrschen. Das beruht aber nicht auf besonderen Rechten, sondern ist ein nur langsamen Veränderungen zugängliches Erbstück aus früheren Zeiten.
Soweit damit argumentiert wird, das Verbot des Neubaus weiterer Kernkraftwerke im Atomgesetz stelle eine Verleihung besonderer Rechte für die gegenwärtigen Betreiber dar, ist darauf hinzuweisen, dass die eigentliche Wettbewerbsbeschränkung dann in dem zu rot-grünen Zeiten festgeschriebenen "Atomkonsens" gesehen werden muß. Die jetzige Atomnovelle lockert aus dieser Perspektive lediglich die Fesseln, die dem Wettbewerb auf diesem Sektor zuvor angelegt worden sind.
Vor allem aber gewährt Art. 106 Abs. 2 AEUV selbst den Mitgliedstaaten weitreichende Möglichkeiten, bei "Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse" – wozu die Energieversorgung zweifellos gehört – zum Zwecke einer gemeinwohlorientierten Aufgabenerfüllung Abweichungen von den Wettbewerbsregeln vorzunehmen beziehungsweise zuzulassen. Das entspricht dem in Art. 14 AEUV ausdrücklich anerkannten besonderen Stellenwert dieser Dienste "innerhalb der gemeinsamen Werte der Union".
Bezieht man hier die von der Bundesregierung im Rahmen ihres Energiekonzeptes vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen in die Betrachtung ein, wird man ihr jedenfalls nicht absprechen können, dass sie sich nach Kräften bemüht, eine den Interessen der Union zuwiderlaufende Beeinträchtigung des Elektrizitätsbinnenmarktes zu verhindern.
Das europäische Wettbewerbsrecht bildet daher im Kontext des gegenwärtigen Atomstreits nur einen Nebenkriegsschauplatz für Ablenkungsmanöver. Die zentrale juristische Auseinandersetzung wird in Karlsruhe um die Zustimmungsbedürftigkeit geführt und entschieden werden.
Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
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Ralph Alexander Lorz, Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke: . In: Legal Tribune Online, 15.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1936 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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