Nach dem Wechsel der Grünen-Landtagsabgeordneten Elke Twesten zur CDU diskutiert man die rechtlichen Möglichkeiten. Für Franz X. Berger kann es nur auf Neuwahlen hinauslaufen, denn alles andere zerstöre das Vertrauen in die Demokratie.
Der amtierende Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil (SPD), hat Neuwahlen angekündigt. Das Landesparlament berät bereits an diesem Donnerstag in einer ersten Sondersitzung über den Auflösungsantrag, sodass schon am 21. August die Abstimmung über die Auflösung des Landtages stattfinden kann.
Was ist passiert? Die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten hat ihren Fraktionsaustritt erklärt, um einen Wechsel zur CDU zu vollziehen. Der Knackpunkt: Damit geht in Niedersachsen die knappe Ein-Stimmen-Mehrheit der rot-grünen Regierungskoalition verloren.
Nun gibt es folgende Möglichkeiten: Weil könnte zurücktreten oder mit einer Minderheitsregierung bis zur regulären Landtagswahl am 14. Januar 2018 weiterarbeiten, sofern der Landtag ihm nicht durch ein konstruktives Misstrauensvotum gemäß Art. 32 der Niedersächsischen Verfassung (NDSVerf) das Vertrauen entzieht und einen neuen Ministerpräsidenten wählt. Schließlich eröffnet das Selbstauflösungsrecht des Niedersächsischen Landtags noch die von Weil präferierte Variante, den Landtag gemäß Art. 10 NDSVerf aufzulösen und anschließend Neuwahlen abzuhalten.
Wie weit geht das freie Mandat?
Davor stellt sich allerdings die Frage, ob der Fraktionswechsel eines Abgeordneten während der laufenden Legislaturperiode überhaupt ohne weiteres möglich ist. Und wenn ja, ob es in einem solchen Fall nicht sogar zwingend zu einer Auflösung des Parlaments und anschließenden Neuwahlen kommen muss.
Twesten genießt als Abgeordnete des niedersächsischen Landtags - ebenso wie alle deutschen Parlamentarier auf Bundes- und Landesebene - ein freies Mandat. Art. 12 NDSVerf und der nahezu wortlautgleiche Art. 38 I 2 Grundgesetz (GG) verleihen den gewählten Volksvertretern sogenannte Abgeordnetenrechte. Diese gewährleisten rechtliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit sowohl gegenüber den Wählern als auch der eigenen Partei beziehungsweise Fraktion. Lediglich ihrem Gewissen sind die Abgeordneten unterworfen. Parteibezogene Mandate sind ebenso wie ein förmlicher Fraktionszwang unzulässig. Damit bildet das freie Mandat einen Grundpfeiler unserer repräsentativen Demokratie.
Allerdings darf man die Rechte eines einzelnen Abgeordneten nicht isoliert betrachten. Alle Parlamentarier genießen dieselben Rechte und nur durch ihr gleichberechtigtes Zusammenwirken kann das Parlament als Ganzes seine Staatsgewalt ausüben. Neben anderen Abgeordnetenrechten kann das freie Mandat eines einzelnen Abgeordneten auch mit anderen Verfassungsrechtspositionen konkurrieren. Das Demokratieprinzip und damit insbesondere die Gleichheit der Wahl sowie die Repräsentationsfähigkeit und Funktionsfähigkeit des Parlaments können als Gegenpol zum freien Mandat wirken. Die Abgeordnetenrechte unterliegen also wechselseitigen Beschränkungen, die es im Sinne praktischer Konkordanz aufzulösen gilt.
Grün gewählt, Schwarz bekommen
Der Übertritt eines Abgeordneten zu einer anderen Partei wird durch sein freies Mandat geschützt. Das hat bereits das Bundesverfassungsgericht im SRP-Urteil vom 23.10.1952 in einem Halbsatz anklingen lassen (Az. 1 BvB 1/51). Allerdings verändert sich durch einen solchen Wechsel das durch die Wahl ermittelte Repräsentationsverhältnis der Parteien.
Anders als bei Direktmandaten werden mit der Zweitstimme Parteien gewählt, wodurch ihre Listenabgeordneten entsprechend mandatiert werden. Auch Frau Twesten ist als Listenkandidatin in den Niedersächsischen Landtag eingezogen. Banal ausgedrückt bedeutet der Wechsel für die Wähler nun: Grün gewählt, Schwarz bekommen.
Im Falle eines Direktkandidaten könnte man über die Handhabung noch trefflich streiten. Doch mit Twesten wechselte eine Listenkandidatin einer bestimmten Partei: Damit ist eine Verzerrung des durch die Zweitstimme manifestierten Wählerwillens nicht von der Hand zu weisen.
2/2: Parteiwechsel von Abgeordneten als Gefahr für die Demokratie
Wechselt ein Abgeordneter die Partei und verändern sich dadurch keine Mehrheiten im Parlament, ist dieser Vorgang praktisch folgenlos. Anders stellt es sich dar, wenn die Opposition durch einen Wechsel Minderheitenrechte verliert oder - wie in Niedersachsen - sogar die Regierungsmehrheit verloren geht. Noch drastischer würde es, wenn gleich mehrere Abgeordnete einen Wechsel vollzögen. Eine vormals kleinere Fraktion könnte so zur Mehrheit im Parlament anwachsen. Auch wäre denkbar, dass die Abgeordneten zu einer nicht im Parlament vertretenen Partei übertreten und sich zu einer regierungsfähigen Fraktion im Parlament neu zusammenfinden. Dem Wählerwillen würde die dann bestehende Regierung überhaupt nicht mehr entsprechen.
Spitzt man dieses Szenario derart zu, ist es denkbar, dass sich ein beliebiger Kreis von Abgeordneten die Mehrheitsverhältnisse im Parlaments zum Spielball macht. Das würde die parlamentarische Demokratie aushöhlen und erinnert an die Zustände zum Ende der Weimarer Republik.
Nun gibt es vielfältige Gründe, einen Schritt wie denjenigen von Frau Twesten zu gehen, von denen aber nicht alle hinzunehmen sind. Die Grenze des Unvertretbaren bildet das Strafrecht mit der Bestechlichkeit von Mandatsträgern nach § 108e Strafgesetzbuch, doch dürften in der Regel lautere Motive der Grund für einen Wechsel sein. Ein entsprechender Rückruf eines Abgeordneten ist aber nicht möglich: Er kann aus seinem Amt für die Zeit, für die er gewählt wurde, nicht abberufen werden.
Bei unumkehrbaren Zerwürfnissen mit der eigenen Partei bleiben einem Abgeordnetem grundsätzlich drei Reaktionsmöglichkeiten, um seinem Protest Ausdruck zu verleihen: Er kann erstens sein Mandat freiwillig niederlegen, zweitens aus der Fraktion austreten und als fraktionsloser Abgeordneter sein Mandat entsprechend den durch das Wüppesahl-Urteil (v. 13.06.1989, Az. 2 BvE 1/88) festgelegten Mitwirkungsmöglichkeiten weiter ausüben oder drittens die Seiten wechseln. Doch alle drei Varianten entsprechen – zumindest im Falle eines Listenkandidaten - nicht dem durch die Wahl geäußerten Volkswillen.
Neuwahl, um Vertrauen in die Demokratie zu schützen
Ein solch bewusstes Abweichen vom Wählerwillen darf nicht hingenommen werden. Die Gesetzeslage sieht für eine derartig herbeigeführte Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament allerdings nicht automatisch Neuwahlen vor. Es bleibt im Grunde nur die von Weil geforderte Möglichkeit des Parlaments, die Selbstauflösung zu beschließen und anschließend Neuwahlen abzuhalten.
Bei einem gleichgelagerten Fall auf Bundesebene müsste die Auflösung des Bundestages mit anschließenden Neuwahlen mangels eines Selbstauflösungsrechts entsprechend Art. 68 GG über die auflösungsgerichtete Vertauensfrage herbeigeführt werden. Nur so kann die repräsentative Demokratie ihre Glaubwürdigkeit behalten und ihrem Namen gerecht werden.
Wer wie Frau Twesten mit demokratisch fragwürdigem Verhalten agiert, dem muss umso demokratischer geantwortet werden: Neuwahlen sind im vorliegenden Fall das einzig probate Mittel. Nur so kann verhindert werden, dass Parlamentarier sich auf Grund ihres freien Mandats vom Volkswillen lösen und ein solches Verhalten mangels adäquater Reaktionen Schule macht.
Im Interesse der Demokratie gilt es nun parteiübergreifend für alle Abgeordneten des niedersächsischen Landtags, am 21. August eigene Machtinteressen zurückzustellen und den Wähler wieder entscheiden zu lassen. Nur Neuwahlen in Niedersachsen wären der für das Volk notwendige Beweis für die Selbstreflektion der Parlamentarier - und damit für die Funktionsfähigkeit unserer repräsentativen Demokratie.
Der Autor Franz X. Berger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau und promoviert derzeit zu einem verfassungsrechtlichen Thema.
Franz X. Berger , Fraktionswechsel im niedersächsischen Landtag: Neuwahl oder Demokratieverlust . In: Legal Tribune Online, 10.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23893/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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