Fraktionswechsel im niedersächsischen Landtag: Neu­wahl oder Demo­k­ra­tie­ver­lust

von Franz X. Berger

10.08.2017

Nach dem Wechsel der Grünen-Landtagsabgeordneten Elke Twesten zur CDU diskutiert man die rechtlichen Möglichkeiten. Für Franz X. Berger kann es nur auf Neuwahlen hinauslaufen, denn alles andere zerstöre das Vertrauen in die Demokratie.

Der amtierende Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil (SPD), hat Neuwahlen angekündigt. Das Landesparlament berät bereits an diesem Donnerstag in einer ersten Sondersitzung über den Auflösungsantrag, sodass schon am 21. August die Abstimmung über die Auflösung des Landtages stattfinden kann.

Was ist passiert? Die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten hat ihren Fraktionsaustritt erklärt, um einen Wechsel zur CDU zu vollziehen. Der Knackpunkt: Damit geht in Niedersachsen die knappe Ein-Stimmen-Mehrheit der rot-grünen Regierungskoalition verloren.

Nun gibt es folgende Möglichkeiten: Weil könnte zurücktreten oder mit einer Minderheitsregierung bis zur regulären Landtagswahl am 14. Januar 2018 weiterarbeiten, sofern der Landtag ihm nicht durch ein konstruktives Misstrauensvotum gemäß Art. 32 der Niedersächsischen Verfassung (NDSVerf) das Vertrauen entzieht und einen neuen Ministerpräsidenten wählt. Schließlich eröffnet das Selbstauflösungsrecht des Niedersächsischen Landtags noch die von Weil präferierte Variante, den Landtag gemäß Art. 10 NDSVerf aufzulösen und anschließend Neuwahlen abzuhalten.

Wie weit geht das freie Mandat?

Davor stellt sich allerdings die Frage, ob der Fraktionswechsel eines Abgeordneten während der laufenden Legislaturperiode überhaupt ohne weiteres möglich ist. Und wenn ja, ob es in einem solchen Fall nicht sogar zwingend zu einer Auflösung des Parlaments und anschließenden Neuwahlen kommen muss.

Twesten genießt als Abgeordnete des niedersächsischen Landtags - ebenso wie alle deutschen Parlamentarier auf Bundes- und Landesebene - ein freies Mandat. Art. 12 NDSVerf und der nahezu wortlautgleiche Art. 38 I 2 Grundgesetz (GG) verleihen den gewählten Volksvertretern sogenannte Abgeordnetenrechte. Diese gewährleisten rechtliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit sowohl gegenüber den Wählern als auch der eigenen Partei beziehungsweise Fraktion. Lediglich ihrem Gewissen sind die Abgeordneten unterworfen. Parteibezogene Mandate sind ebenso wie ein förmlicher Fraktionszwang unzulässig. Damit bildet das freie Mandat einen Grundpfeiler unserer repräsentativen Demokratie.

Allerdings darf man die Rechte eines einzelnen Abgeordneten nicht isoliert betrachten. Alle Parlamentarier genießen dieselben Rechte und nur durch ihr gleichberechtigtes Zusammenwirken kann das Parlament als Ganzes seine Staatsgewalt ausüben. Neben anderen Abgeordnetenrechten kann das freie Mandat eines einzelnen Abgeordneten auch mit anderen Verfassungsrechtspositionen konkurrieren. Das Demokratieprinzip und damit insbesondere die Gleichheit der Wahl sowie die Repräsentationsfähigkeit und Funktionsfähigkeit des Parlaments können als Gegenpol zum freien Mandat wirken. Die Abgeordnetenrechte unterliegen also wechselseitigen Beschränkungen, die es im Sinne praktischer Konkordanz aufzulösen gilt.

Grün gewählt, Schwarz bekommen

Der Übertritt eines Abgeordneten zu einer anderen Partei wird durch sein freies Mandat geschützt. Das hat bereits das Bundesverfassungsgericht im SRP-Urteil vom 23.10.1952 in einem Halbsatz anklingen lassen (Az. 1 BvB 1/51). Allerdings verändert sich durch einen solchen Wechsel das durch die Wahl ermittelte Repräsentationsverhältnis der Parteien.

Anders als bei Direktmandaten werden mit der Zweitstimme Parteien gewählt, wodurch ihre Listenabgeordneten entsprechend mandatiert werden. Auch Frau Twesten ist als Listenkandidatin in den Niedersächsischen Landtag eingezogen. Banal ausgedrückt bedeutet der Wechsel für die Wähler nun: Grün gewählt, Schwarz bekommen.

Im Falle eines Direktkandidaten könnte man über die Handhabung noch trefflich streiten. Doch mit Twesten wechselte eine Listenkandidatin einer bestimmten Partei: Damit ist eine Verzerrung des durch die Zweitstimme manifestierten Wählerwillens nicht von der Hand zu weisen.

Zitiervorschlag

Franz X. Berger , Fraktionswechsel im niedersächsischen Landtag: Neuwahl oder Demokratieverlust . In: Legal Tribune Online, 10.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23893/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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