Hartz IV für EU-Ausländer: Auch Europarecht verlangt ein Existenzminimum

von Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe

16.10.2013

2/2: BayLSG: Europarecht verlangt Hartz IV für Unionsbürger auf Arbeitssuche

Das Bayerische LSG hatte sich bereits im Juni mit einem ähnlichen Fall zu befassen, der allerdings erst jetzt im Nachgang zu der Entscheidung aus NRW bekannt wurde. Dabei ging es um den Leistungsantrag eines Italieners, dem ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche zustand. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II war also erfüllt, wenngleich sich das Jobcenter erst darauf berief, als umfangreiche Krankenbehandlungen anfielen. Mit ausführlicher und überzeugender Begründung kommt das LSG jedoch zu dem Ergebnis, dass der Leistungsausschluss wegen eines Verstoßes gegen des in der Wanderarbeitnehmer-Verordnung verankerten Diskriminierungsverbotes nicht anwendbar sein kann (Urt. v. 19.06.2013, Az. L 16 AS 847/12).

Nach Art. 4 der Wanderarbeitnehmer-VO haben Berufstätige, Studenten und Auszubildende, die in einem Mitgliedstaat wohnen, der nicht ihr Heimatland ist, dieselben Rechte und Pflichten wie die Angehörigen des aufnehmenden Mitgliedstaates. Die Verordnung gilt zwar nicht für "soziale Fürsorge", aber neben den klassischen Zweigen der sozialen Sicherung auch für "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" (Art. 70 Abs. 2 der Verordnung). In diese letzte Kategorie ordnet das LSG die Hartz-IV-Ansprüche ein, so dass für sie ebenfalls das Gleichbehandlungsgebot gilt.

Entgegen der Ansicht des deutschen Gesetzgebers könne das Gleichbehandlungsgebot nicht unter Berufung auf Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie eingeschränkt werden, wonach der Anspruch von Arbeitsuchenden auf Sozialhilfe ausgeschlossen werden kann. Das LSG begründet dies mit dem Vorrang der Verordnung vor der Richtlinie und dem Grundsatz der Spezialität.

Auch der EuGH hat die Vereinbarkeit der Ausnahmebestimmung in der Freizügigkeits-Richtlinie mit dem primären Unionsrecht nur mit der Einschränkung gebilligt, dass als "Sozialhilfeleistung" nicht solche Leistungen angesehen werden, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen (Urt. v. 04.06.2009, Az. C-22/08). Aber eben eine solche Leistung ist Hart IV.

Verstoß gegen Europäisches Fürsorgeabkommen

Ob auch ein Verstoß gegen die Regelungen des Europäischen Fürsorgeabkommens vorliegt, musste das Bayerische LSG danach nicht mehr klären. Das hatte indes bereits das BSG ausführlich getan: Nach Ansicht der Kasseler Richter verstößt § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Fürsorgeabkommens. Dieser verpflichtet die Mitgliedsländer nämlich dazu,  Staatsangehörigen anderer Vertragsstaaten, die sich in ihrem Gebiet erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie den eigenen Staatsangehörigen Sozialleistungen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren (Urt. v. 19.10.2010, Az. B 14 AS 23/10 R).

Der daraufhin von Deutschland erklärte Vorbehalt für das SGB II mit dem Ziel, die Zuwanderung von EU-Bürgern aus südeuropäischen Krisenstaaten "in die Sozialsysteme" zu verhindern, ist völkerrechtlich nicht wirksam. Nach dem Fürsorgeabkommen kann ein Vorbehalt nämlich nur gleichzeitig mit der Mitteilung über neue, bisher vom Abkommen nicht erfasste nationale Sozialgesetze erklärt werden.

Die Ausschlussklausel des SGB II kann also auf Angehörige der Vertragsstaaten (Frankreich, Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, Türkei, Großbritannien) nicht angewendet werden.

BSG wird pauschalen Ausschluss endgültig kippen

Die brisante Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen EU-Bürger von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen werden können, muss möglichst schnell höchstrichterlich entschieden werden, um eine einheitliche Praxis zu gewährleisten. Das BSG wird in den Revisionsverfahren zu den beiden hier besprochenen Urteilen Gelegenheit dazu haben.

Allerdings haben die höchsten Sozialrichter schon in zwei Entscheidungen deutliche Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des Ausschlusses geäußert, soweit dieser nicht danach differenziert, wie stark die Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats ist (Urt. v. 19.10.2010, Az. B 14 AS 23/10 R und Urt. v. 30.01.2013, Az. B 4 AS 547/12 R).

Die Tage des pauschalen Ausschlusses europäischer Arbeitsmigranten aus dem Leistungssystem des SGB II sind wohl gezählt. Nur dies wird im Übrigen mit dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar sein, das nach dem Bundesverfassungsgericht (BverfG) "in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss" (Urt. v. 18.07.2012, Az. 1 BvL 10/10 u 2/11).

Der Autor Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Schwerpunkte sind das Sozial-, das Verwaltungs- und das Umweltrecht.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe, Hartz IV für EU-Ausländer: Auch Europarecht verlangt ein Existenzminimum . In: Legal Tribune Online, 16.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9815/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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