LAG spricht Frau mit Kopftuch AGG-Entschädigung zu: Arbeits­ver­trag mit Neu­tra­li­täts­gebot ist Dis­kri­mi­nie­rung

von Tanja Podolski

16.01.2025

Eine Muslimin mit Kopftuch wird diskriminiert, wenn der ihr angebotene Arbeitsvertrag eine Neutralitätspflicht vorsieht, obwohl das Kopftuchtragen für ihre Tätigkeit keine Relevanz hat. Ein Ritt durch die ausgeprägte Kopftuch-Rechtsprechung.

Ein Arbeitgeber verstößt gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), wenn er einer Muslimin einen Arbeitsvertrag unterbreitet, der ein Neutralitätsgebot enthält. Das hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg in einem jetzt bekannt gewordenen Urteil entschieden (Urt. v. 12.11.2024, Az. 11 Sa 443/24). Die Frau bekommt zwei Monatsgehälter Entschädigung.

Die kopftuchtragende Muslimin hatte sich auf eine Stelle als Werkstudentin in einer sozialen Einrichtung beworben. Sie bekam die Stelle zugesagt und einen bereits vom Arbeitgeber unterschriebenen Arbeitsvertrag zugeschickt. Der Vertrag enthielt jedoch eine Neutralitätsformel. In dieser heißt es, der Arbeitgeber trete neutral auf. Das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung am Arbeitsplatz sei daher untersagt. Das gelte auch für sie, erklärte der Arbeitgeber auf Nachfrage. Die Frau sollte zwar nur Recherchen machen und wäre nicht in die sonstigen Arbeiten der Einrichtung eingebunden. Doch ihr Arbeitsraum sei unmittelbar neben dem Gruppenraum und sie sei ins Team eingebunden, was zu Konflikten führen könne, wie ihr Arbeitgeber bemerkte.

Neutralität bei Werkstudentin nicht zwingend

Das Arbeitsgericht (ArbG) Berlin hatte die daraufhin geltend gemachte Entschädigung nach dem AGG noch abgelehnt (Urt. v. 18.04.2018, Az. 38 Ca 5915/23). Vor dem LAG bekam die Klägerin nun zwei Monatsgehälter wegen Diskriminierung gem. § 15 Abs. 2 AGG zugesprochen. 

Das LAG marschiert in seiner Entscheidung fast durch das gesamte Prüfungsschema des AGG: Die Frau sei Bewerberin gem. § 6 Abs. 1 Satz 2, 1. Alt. AGG. Für die Einhaltung der Frist für die Geltendmachung des Anspruchs sei in diesem Fall auf die Übersendung des Arbeitsvertrages mit der darin enthaltenen Neutralitätsklausel abzustellen. Hier: (+). Der Arbeitgeber verstieß laut LAG auch gegen das Benachteiligungsverbot aus § 7 AGG wegen der Religion. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urt. v. 27.08.2020, Az.  8 AZR 62/19) liege hier eine unmittelbare, nach dem Europäischen Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 13.10.2020, Az. C-344/20) eine mittelbare Diskriminierung vor. Diese Differenzierung könne aber schon dahinstehen, so das LAG.

Denn in jedem Fall sei die Frau diskriminiert worden. Zwar habe der Arbeitgeber einen bereits unterschriebenen Arbeitsvertrag zugeschickt, aber eben mit dem Neutralitätsgebot. Damit habe der Arbeitgeber "kein uneingeschränktes oder neutrales Angebot unterbreitet". Er habe vielmehr klargemacht, dass er die klagende Frau nur einstellen werde, wenn sie sich verpflichtet, am Arbeitsplatz und im Betrieb kein Kopftuch zu tragen. Da die Muslimin das Kopftuch auch bei der Arbeit aus religiösen Gründen tragen möchte, liegt nach dem LAG in diesem Anliegen des Arbeitgebers die für den AGG-Anspruch notwendige Benachteiligung wegen der Religion. 

Gerechtfertigt war die Diskriminierung nach Ansicht der Kammer auch nicht. Denn es sei für eine Werkstudentin, die zu Recherchezwecken eingestellt wird, keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für diese Tätigkeit: "Die ordnungsgemäße Durchführung dieser Tätigkeit hängt nicht davon ab, ob die Arbeitnehmerin ein islamisches Kopftuch trägt oder nicht", befand das LAG.

Bereits viel Rechtsprechung zum Kopftuch

Das Gericht verwies darüber hinaus auf die umfassende Rechtsprechung zu Kopftuchverboten, etwa auf die des Bundesverfassungsgerichts. Danach verletzt ein pauschales Kopftuchverbot für Arbeitnehmerinnen deren Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 Grundgesetz (GG) auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Das hat das BVerfG bereits für Lehrerinnen (BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015, Az. 1 BvR 471/10) und für Erzieherinnen in öffentlichen Kindertagesstätten entscheiden (BVerfG, Beschl. v. 18.10.2016, Az. 1 BvR 354/11).

Das BAG hatte in einer Entscheidung betont, dass nur bei Anhaltspunkten für "konkrete Störungen" durch das Tragen eines Kopftuchs betriebliche Neutralitätsvorgaben erlaubt seien (Urt. v. 27.08.2020, Az. 8 AZR 62/19).

Der EuGH betonte zunächst, dass der Wille des Arbeitgebers, im Betrieb Neutralität durchsetzen zu wollen, ausreiche, um ein Kopftuchverbot zu rechtfertigen (EuGH, Urt. v. 04.03.2017, Az. C188/15). Später konkretisierte das Gericht, die Ungleichbehandlung müsse durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel angemessen und erforderlich sein (EuGH, Urt. v. 13.10.2022, Az. C 344/20). Zudem betonte der EuGH die Bedeutung der nationalen Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit bei der Abwägung (EuGH, Urt. v. 15.07.2021, Az. C-804/18 u. C-341/19). Sei die Religionsfreiheit in einem Mitgliedstaat – so wie dies in Deutschland der Fall ist – besonders stark ausgeprägt, dürften diese nationalen Vorschriften als günstigere Vorschriften gegenüber dem Unionsrecht berücksichtigt werden.

Im Berliner Fall stand für die Kammer fest: "Der Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin durch das durch die Neutralitätsklausel vermittelte pauschale Kopftuchverbot ist unverhältnismäßig und deshalb nicht gerechtfertigt." Das LAG ging entgegen der üblichen Entschädigung in Höhe von 1,5 Monatsgehältern auf zwei Monatsgehälter hoch. Begründung: Die vergleichsweise geringe Vergütung und weil die ausgeprägte Rechtsprechung zur Diskriminierung wegen Kopftuchs dem Arbeitgeber hätte bekannt sein müssen.

Vertreten wurde die klagende Frau von Rechtsanwältin Tugba Sezer aus Hamburg.

Zitiervorschlag

LAG spricht Frau mit Kopftuch AGG-Entschädigung zu: . In: Legal Tribune Online, 16.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56349 (abgerufen am: 11.02.2025 )

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