Reformvorschläge des 2. Strafkammertags zur StPO: Revo­lu­tion nach fast 140 Jahren

von Prof. Dr. Björn Gercke, Prof. Dr. Matthias Jahn und Prof. Dr. Helmut Pollähne

09.11.2017

3/3: Hauptverhandlung in Strafsachen: Die Praxis hat die Dinge längst im Griff

Unklar bleibt auch, wo das praktische Bedürfnis für eine "Unterbindung von 'ins Blaue hinein' gestellten Beweisanträgen durch erhöhte gesetzliche Anforderung an deren Begründung" herrühren soll. Dieses Problem hat der BGH bislang nicht nur in den Begriff bekommen, sondern, mit Billigung vom Karlsruher Schloßplatz, über Rechtsfortbildungen wie die "Konnexität" von Beweisanträgen sogar noch in die gegenteilige Richtung inhaltlich erweiterter Darlegungspflichten des Antragstellers getrieben.

Soweit vom "Strafkammertag" die erweiterte Verlesbarkeit von Urkunden in Fällen von Zeugenfragebögen bzw. Strafanzeigen in gleichgelagerten Massenverfahren gefordert wird, erachtet dies schon jetzt die Rechtsprechung teilweise als zulässig. Bei einer gesetzlichen Regelung stellte sich zudem die Frage, ab wann es sich um ein Massenverfahren handeln soll. Dies bedarf einer eindeutig bestimmten Regel, um missbräuchlicher Anwendung vorzubeugen. Und worin der Effektivitätsgewinn des angejährten Vorschlags liegt, Tatsachenfeststellungen und Schuldspruch im Strafverfahren sollten "eine Bindungswirkung in nachfolgenden Zivilverfahren entfalten", bleibt ebenfalls dunkel.

Ganz im Gegenteil müsste eine gewissenhafte Verteidigung dann im Strafprozess umso mehr um die Festschreibung des aus ihrer Sicht zutreffenden Sachverhalts kämpfen. Auch die geforderte Verlesung von Berichten der Jugendgerichts- und Bewährungshilfe statt der Vernehmung des jeweiligen Mitarbeiters erleichtert nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern allenfalls, und auch dann nur auf den ersten Blick, die Arbeit für den Richter.

Es handelt sich bei diesen Berichten nicht um Petitessen in Formularform, denn es kann für den Angeklagten viel von ihnen abhängen: Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts, Auswahl der Sanktionen, Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, Auflagen und Weisungen etc. – diejenigen, die die jeweiligen Berichte verfasst haben, müssen deshalb, wie bisher, nicht nur wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung beiwohnen, sondern insbesondere auch für Nachfragen zur Verfügung stehen.

Die begründungsbedürftige Sachrüge – Revolution nach fast 140 Jahren

Regelrecht abenteuerlich ist der Vorschlag, "Revisionen sollen nur noch dann zulässig sein, wenn sie durch einen Verteidiger begründet werden, der die Sachrüge in gleicher Weise wie die Verfahrensrüge auszuführen hat". Dieser an einem halben Würzburger Herbsttag ersonnene Gedanke war in der fast 140-jährigen Reformgeschichte der StPO bisher ohne populäre Fürsprecher geblieben. Aus gutem Grund: Er würde dem Revisionsrichter zumuten, sehenden Auges eine Entscheidung im Widerspruch zum Strafgesetzbuch treffen zu müssen, wenn ein sachlich-rechtlicher Mangel des tatrichterlichen Urteils nicht, nicht in der gehörigen Form oder nicht innerhalb der Fristen gerügt worden ist – denn eine prozessuale Sanktion müsste an die Nichterfüllung des Sachrüge-Begründungserfordernisses anknüpfen, widrigenfalls es zahnlos wäre.

Will man einem Revisionsgericht wirklich zumuten, einen Diebstahl in Gestalt der tatrichterlichen Verurteilung wegen Raubes nur deshalb nicht aufzuheben, weil der Verteidiger die Sachrüge nicht "gehörig" ausgeführt hat? Soll die als versuchter Mord ausgeurteilte gefährliche Körperverletzung allein deshalb rechtskräftig werden, weil der Verteidiger die Angriffsrichtung seiner Sachrüge nicht hinreichend verdeutlicht hat? Der Vorschlag berührt also Grundfragen der Stellung und Funktion des BGH und der Strafsenate der 24 Oberlandesgerichte in Deutschland. Wenigstens hat dieser verwegene Reformgedanke dem Vernehmen nach nur die denkbar knappste Mehrheit bekommen.

Weitere Empfehlungen zur Revision – gegen Entscheidungen der Kleinen Strafkammer soll sie der Zulassung bedürfen, die Sprungrevision soll abgeschafft werden – sind Griffe in die rechtspolitische Mottenkiste. Sie haben sich aus gutem Grund in sogenannten Rechtspflegeentlastungsgesetzen vergangenen Jahrzehnten nicht durchzusetzen vermocht. Überdies wird deutlich, dass sich unter der Flagge eines "Strafkammertages" einige Entscheidungsträger versammelt haben, die vor allem die Arbeitslast von OLG-Senaten durch eine weitere Zulassungshürde und Änderung des Instanzenzuges mindern wollen.

Auch das noch: Coaching und Supervision unabhängiger Strafrichter

Demgegenüber ist gegen den vom Strafkammertag geforderten "Anspruch auf und eine Pflicht zur aufgabenorientierten Fortbildung unter Berücksichtigung bei der Personalausstattung" an sich wenig einzuwenden. Ob jedoch alle von Verfassungs wegen unabhängigen Strafrichterinnen und Strafrichter mit der im gleichen Atemzug genannten "tätigkeitsbegleitenden Unterstützung durch Maßnahmen wie Coaching/Supervision" einverstanden sein werden, erscheint zweifelhaft.

Es wäre Aufgabe der drei großen berufsständischen Organisationen Deutscher Richterbund, Neue Richtervereinigung und der Fachgruppe Recht von ver.di, hier auf breiter Basis zunächst ein verlässliches Meinungsbild einzuholen. Sonst könnte eine letztlich von den OLG-Präsidenten initiierte Supervision den Beigeschmack einer aufgedrängten Rundumüberwachung mit Einflussnahmeoption auch bei erfahrenen, schon lange lebenszeiternannten Strafrichtern bekommen.

Insgesamt stellen sich die Forderungen des 2. Strafkammertages damit als zufällig und eklektisch wirkendes Sammelsurium von Vorschlägen dar, die zur massiven Einschränkung von Beschuldigtenrechten und kurzleiniger Gängelung der Verteidigung im Strafprozess führen würden. Dass sie darüber hinaus ihrem selbst gesteckten Anspruch, effizient und praxistauglich zu sein, bei näherer Betrachtung nicht standhalten, sollte für den neuen Bundestag den Ausschlag geben, den Forderungen nicht näher zu treten. Er wäre damit gut beraten.

Dr. Björn Gercke ist Strafverteidiger in Köln und Honorarprofessor an der dortigen Universität, Dr. Matthias Jahn ist Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) der Goethe-Universität Frankfurt und war 2014/15 Mitglied der BMJV-Expertenkommission zur StPO-Reform. Dr. Helmut Pollähne ist Strafverteidiger in Bremen sowie (habilitierter) Honorarprofessor der dortigen Universität. Die drei Autoren bilden die Redaktion der im 37. Jahrgang erscheinenden Fachzeitschrift Strafverteidiger im Verlag Carl Heymanns.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Björn Gercke, Prof. Dr. Matthias Jahn und Prof. Dr. Helmut Pollähne, Reformvorschläge des 2. Strafkammertags zur StPO: Revolution nach fast 140 Jahren . In: Legal Tribune Online, 09.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25445/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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