Gab es vor der Todesfahrt von Magdeburg Versäumnisse bei Sicherheitsbehörden? Müssen kurzfristig schärfere Sicherheitsgesetze beschlossen werden? Eine Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestages soll kommende Woche Klarheit bringen.
Nach dem verheerenden Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit fünf Toten und vielen Schwerverletzten fordern Politiker eine konsequente Aufklärung sowie schärfere Sicherheitsgesetze. Geklärt werden soll auch, ob es Versäumnisse von Sicherheitsbehörden gegeben hat. "Das muss jetzt minutiös nachvollzogen werden, warum wir da nicht vorher haben wachsam sein können", sagte der SPD-Innenpolitiker Lars Castellucci im ZDF-Morgenmagazin. Der Täter sei offenbar zuvor keinesfalls unauffällig gewesen.
Wie am Montag bekannt wurde, wollen sich der Bundestagsinnenausschuss und das Parlamentarische Kontrollgremium für die Nachrichtendienste am kommenden Montag in Sondersitzungen mit dem tödlichen Anschlag befassen. Beide Sitzungen sollen laut dpa in Präsenz stattfinden. Es hieß, dass die Chefs der Sicherheitsbehörden und auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dabei sein sollen.
Castellucci, selbst stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses, sagte, er wolle den genauen Ermittlungen nicht vorgreifen, verstehe aber nicht, warum es bei einer schriftlichen Gefährderansprache gegenüber dem Täter geblieben sei. Mit einer Gefährderansprache soll der betroffenen Person grundsätzlich klar gemacht werden, dass sie unter Beobachtung steht. Medien hatten darüber berichtet, dass die Polizei dem Täter Taleb A. wohl bereits vor Monaten schriftlich eine solche Ansprache zukommen ließ. Eine persönliche Ansprache ist laut Polizei nicht erfolgt, weil Taleb A. nicht anzutreffen gewesen sei. Als dramatisch bezeichnete der SPD-Politiker, dass der Todesfahrer eine Rettungsgasse nutzen konnte.
SPD: "Union und FDP verweigern sich"
Unterdessen wird – wie nach derartigen Anschlägen üblich – aus der Politik der Ruf nach Verschärfung von Sicherheitsgesetzen laut. Bundesinnenministerin Faeser sagte dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass die notwendigen Schlüsse gezogen werden müssten, sobald die Ermittlungen ein klares Bild vom Täter und allen Hintergründen der furchtbaren Tat in Magdeburg ergeben haben.
Ein Ministeriumssprecher sagte zu LTO, es hätten schon vor der Tat eine Reihe wichtiger Gesetzentwürfe des Bundesministeriums des Inneren und Heimat (BMI) vorgelegen, um die Sicherheitsbehörden zu stärken. Dazu gehöre das neue Bundespolizeigesetz, das schon seit geraumer Zeit im Bundestag beraten wird. Außerdem der biometrische Datenabgleich zur Identifizierung von Verdächtigen im Bereich Terrorismus und organisierter und schwerer Kriminalität. Dieser Teil des Sicherheitspakets der Bundesregierung als Konsequenz auf den islamistischen Anschlag in Solingen sei vom Bundestag zwar beschlossen, im Bundesrat aber von den unionsgeführten Ländern aufgehalten worden.
Final ausgearbeitet seien auch Konkretisierungen des BKA-Gesetzes im Bereich Terrorismusbekämpfung, die vom Bundesverfassungsgericht verlangt worden seien. Schließlich liege ein Entwurf vor, der die rechtssichere Speicherung von IP-Adressen gemäß der Rechtsprechung des EuGH vorsieht. "All diese Gesetzentwürfe von uns könnten sofort beschlossen werden, wenn Union und FDP sich dem nicht verweigern", so Faeser zum Spiegel. Der innenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Sebastian Hartmann, pflichtete seiner Parteifreundin in einem Statement gegenüber LTO bei: Durch die Blockade der Union beim Sicherheitspaket im Bundesrat sei wichtige Zeit verschwendet worden, so Hartmann. "Das seit 1994 nicht mehr novellierte Bundespolizeigesetz ist seit April 2024 in der Ampel ausverhandelt und wurde seitdem von der FDP verhindert."
FDP: "Brauchen proaktive Diskussion über Sicherheit"
Aus der Bundestagsfraktion der Liberalen hieß es hingegen, es bedürfe nun einer Aufarbeitung der Hintergründe der Gewalttat von Magdeburg. "Erste Erkenntnisse deuten auf eine komplexe Radikalisierungsgeschichte des Täters hin. Gleichzeitig muss über einen besseren physischen Schutz von Veranstaltungen wie Weihnachtsmärkten gesprochen werden", so Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion zu LTO. Dem FDP-Innenexperten zufolge empfiehlt sich ein bundesweiter Mindeststandard für entsprechende Sicherheitskonzepte.
Kuhle äußerte außerdem seinen Unmut darüber, dass es "immer" erst terroristischer Anschläge bedürfe, damit im Bereich der Inneren Sicherheit Gesetzgebung erfolge. "Es braucht eine proaktive Diskussion über unsere Sicherheit — auch mit Blick auf die Struktur der Sicherheitsbehörden. Derzeit überschneiden sich zu viele Behörden in Bund, Ländern und Kommunen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben im Bereich der Inneren Sicherheit. Die Befugnisse unserer Sicherheitsbehörden sind daher unübersichtlich und oftmals unklar. Deshalb müssen Bund und Länder die Strukturen bei der Inneren Sicherheit gemeinsam neu ordnen."
Union kritisiert "kosmetisches Sicherheitspaket" der Ampel
Aus der Unionsfraktion meldete sich ihr innenpolitischer Sprecher Alexander Throm gegenüber LTO zu Wort: Der Schutz der Bevölkerung und die Sicherheitsinteressen unseres Staates müssten Vorrang vor Datenschutzinteressen des Einzelnen haben. Die Forderungen von CDU/CSU, so Throm, seien klar: "Eine angemessene Speicherfrist für IP-Adressen, automatisierte und Echtzeit-Gesichtserkennung, der Einsatz einer verfahrensübergreifenden Recherche- und Analyseplattform zur besseren Datenauswertung sowie Kompetenzen im Bereich der Online-Durchsuchung und der Telekommunikationsüberwachung."
Den von Faeser erhobenen Blockadevorwurf ließ Throm gegenüber LTO nicht gelten: "Es war die Ampel, die nach dem Anschlag in Solingen ein in Großteilen kosmetisches Sicherheitspaket im parlamentarischen Verfahren derart verwässert hat, dass es im Bundesrat durchfallen musste." Die IP-Speicherung würden übrigens FDP und Grüne blockieren, so Throm.
Irritiert reagierte auch der rechtspolitische Sprecher der Union, Günter Krings, auf Faesers Aussage, es lägen bereits Gesetzentwürfe der Ampel vor, die nur beschlossen werden müssten: "Gesetzentwürfe, welche die Bundesregierung in den Bundestag eingebracht hat und welche die Amokfahrt hätten verhindern können, sehe ich leider nicht", so Krings zu LTO. Vielmehr sei die Ampel über drei Jahre mit Gesetzesvorschlägen aufgefallen, die die Arbeit der Sicherheitsbehörden massiv erschweren beziehungsweise erschwert hätten. "Das gilt etwa für die geplanten Restriktionen beim Einsatz von verdeckten Ermittlern und V-Leuten."
Krings wies auf zwei abstimmungsreife Gesetzentwürfe zur Inneren Sicherheit hin, die die Union in den Bundestag eingebracht habe und denen die Regierungsfraktionen "sofort" zustimmen könnten. "Darin unterstützen wir auch Anti-Terror-Ermittlungen durch eine IP-Adressen-Speicherung und sehen u.a. härtere Strafen für Messerattacken vor." Da die denkbaren Szenarien von Anschlägen und Gewalttaten vielfältig seien, wären diese beiden Gesetze Krings zufolge "ein echter und rascher Beitrag für mehr Sicherheit".
AfD-Kundgebung in Magdeburg
Unterdessen rief Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck in einer Videobotschaft dazu auf, "sich nicht vom Hass anstecken" zu lassen. Rechte Gruppen hatten bereits kurz nach der Tat in Magdeburg zu Demonstrationen aufgerufen. Für den frühen Montagabend hat die AfD zu einer Kundgebung auf den Magdeburger Domplatz mit anschließendem Trauermarsch eingeladen. Dazu werden die AfD-Vorsitzende Alice Weidel und mehrere AfD-Landespolitiker erwartet. In der Einladung hieß es, die schreckliche Tat zeige auf dramatische Weise die Gefahren der derzeitigen Einwanderungspolitik.
Parallel zur AfD-Veranstaltung hat eine Initiative namens "Gib Hass keine Chance" zu einer Menschenkette um den Alten Markt aufgerufen. Dort war der Täter Taleb A. am Freitagabend mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt gerast und hatte fünf Menschen getötet und 200 verletzt.
Täter war den Behörden kein Unbekannter
Taleb A. sitzt derweil in Untersuchungshaft. Der Arzt aus Bernburg südlich von Magdeburg stammt aus Saudi-Arabien, lebt seit 2006 in Deutschland und erhielt 2016 Asyl als politisch Verfolgter. Er war in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen aufgefallen. So wurde nach Angaben von BKA-Chef Holger Münch nach einem Hinweis aus Saudi-Arabien zu dem Mann im November 2023 ein Verfahren eingeleitet. Die Sache sei aber unspezifisch und der Mann nicht für Gewalthandlungen bekannt gewesen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verwies eine Person mit Hinweisen zu dem späteren Täter von Magdeburg an die Polizei. Dies entspreche dem für solche Fälle vorgesehenen Vorgehen, teilte das Amt auf Anfrage der dpa mit. Die Frage, ob das BAMF auch selbst die Polizei verständigt hat, wurde nicht beantwortet. Das Bundesamt hatte zuvor auf der Plattform X mitgeteilt, der Hinweis sei im Spätsommer vergangenen Jahres über die Social-Media-Kanäle eingegangen.
Mit Material von dpa
Nach Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56182 (abgerufen am: 12.02.2025 )
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