Die neue Bundesregierung möchte laut Koalitionsvertrag die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickeln und insbesondere die "Flucht" in europäische Aktiengesellschaften beenden. Die Ausbau-Pläne erklären Dr. Günter Seulen und Kathrin Vossen.
Am 24. November 2021 veröffentlichten die Koalitionspartner von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP den Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode. Unter dem Titel "Mehr Fortschritt wagen" präsentierte die neue Regierung ihren politischen Kurs für die nächsten vier Jahre. Für Unternehmen von zentraler Bedeutung ist das erklärte Ziel, die Pflicht zur Bildung eines auch mit Arbeitnehmervertreter:innen besetzten Aufsichtsrates, also die Unternehmensmitbestimmung, signifikant auszuweiten.
Dazu heißt es im Koalitionsvertrag: "Deutschland nimmt bei der Unternehmensmitbestimmung eine weltweit bedeutende Stellung ein. Die bestehenden nationalen Regelungen werden wir bewahren. Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Wir werden die Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt."
Ausländische Rechtsformen bisher nicht erfasst
Worum es geht: Grundlage für die Unternehmensmitbestimmung sind das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) sowie das Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG). Beide zählen bisher die Rechtsformen, für die die Unternehmensmitbestimmung gilt, abschließend auf. Mit der AG, der GmbH und der KGaA sowie beim MitbestG unter Umständen auch der (GmbH & Co.) KG sind dies Rechtsformen, die in der deutschen Unternehmenslandschaft am häufigsten anzutreffen sind. Unternehmen mit ausländischer Rechtsform sind bislang nicht erfasst.
Ob und in welchem Umfang Arbeitnehmer:innen bei den erfassten Gesellschaften im – unter Umständen hierfür erstmals einzurichtenden – Aufsichtsrat mitbestimmen können, richtet sich nach der Größe der Belegschaft.
Eine Mitwirkung im Aufsichtsrat erfolgt nur, wenn das Unternehmen mehr als 500 Arbeitnehmer:innen beschäftigt. Dann muss der Aufsichtsrat zu einem Drittel mit Arbeitnehmern:innen besetzt werden (DrittelbG). Ab 2.000 Beschäftigten müssen dem Aufsichtsrat zu gleichen Teilen Vertreter der Anteilseignerseite und der Belegschaft angehören (MitbestG).
Für die Feststellung der relevanten Anzahl der Beschäftigten werden in Konzernstrukturen unter bestimmten Umständen auch Arbeitnehmer:innen aus Tochtergesellschaften zugerechnet. Nach aktueller Gesetzeslage erfolgt dies im Anwendungsbereich des DrittelbG aber nur, wenn zwischen der Mutter- und der Tochtergesellschaft ein Beherrschungsvertrag besteht oder eine Tochter-AG in eine Mutter-AG nach §§ 319 ff. AktG eingegliedert ist.
Ganz anders ist es nach dem MitbestG: Hier reicht es für die Zurechnung der Beschäftigten, dass beherrschender Einfluss auf das Tochterunternehmen besteht und dieses unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens steht (Konzernierung). Eine Mehrheitsbeteiligung genügt im Rahmen des MitBestG regelmäßig für die Zurechnung, weil in diesem Fall die Beherrschung und daraus folgend die einheitliche Leitung gesetzlich vermutet werden.
Besonderheiten bei der SE
Besonderheiten gelten bisher nach dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) für die Societas Europaea (SE). Im Falle der Umwandlung einer Gesellschaft in eine SE wird das vor der Umwandlung bestehende Mitbestimmungsniveau beibehalten, sofern mit den Arbeitnehmer:innen nichts anderes vereinbart wird. Nach der Umwandlung bleibt also alles so, wie vor der Umwandlung („Vorher-Nachher-Prinzip“).
Unternehmen, bei denen die Zahl der Arbeitnehmer:innen über den nächsten Schwellenwert hinauswachsen könnte, können durch den Wechsel in die SE das bisherige Mitbestimmungsniveau beibehalten, selbst wenn bislang überhaupt keine Mitbestimmung bestand. Ob sich die Zahl der Arbeitnehmer:innen im Anschluss an die Umwandlung erhöht, hat dann keine Relevanz mehr. Wegen dieses "Einfriereffektes" steht die SE in der Kritik, die "Flucht" aus der deutschen Mitbestimmung zu ermöglichen.
Pläne: Ausdehnung der Zurechnung im DrittelbG
Der neuen Regierungskoalition geht es darum, den bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten bei der Unternehmensmitbestimmung entgegenzuwirken und diese auf eine Vielzahl weiterer Unternehmen in Deutschland auszuweiten.
Wenn künftig auch nach dem DrittelbG die "faktische Beherrschung" der Tochtergesellschaft für die Zurechnung der Arbeitnehmer:innen ausreichen soll, werden zahlreiche Unternehmensgruppen mit mehr als 500 und weniger als 2.000 relevanten Arbeitnehmer:innen erstmals einen mitbestimmten Aufsichtsrat bilden müssen. Gerade in Familiengesellschaften mit ihrer oftmals fein austarierten und langjährig erprobten Corporate-Governance-Struktur kann es aus Unternehmenssicht zu erheblichen Störungen kommen, wenn künftig ein mitbestimmter Aufsichtsrat gebildet werden muss bzw. sich die Zusammensetzung des bestehenden Aufsichtsgremiums wesentlich ändert.
Viele potenziell mitbestimmte Unternehmen haben in der Vergangenheit ausländische Gesellschaftsformen genutzt, um das deutsche Mitbestimmungsregime zu vermeiden. Dem will die Regierungskoalition offenbar einen Riegel vorschieben. Allerding ist es durchaus problematisch, wenn der deutsche Gesetzgeber in die Organisationsstruktur ausländischer Gesellschaften und damit letztlich in das Gesellschaftsrecht eines anderen Staates eingreift. Beschränkungen für EU-ausländische Rechtsformen stünden auch in Konflikt mit der EU-Niederlassungsfreiheit. Wie die Koalitionäre diese Frage angehen wollen, bleibt spannend.
Abschaffung des "Einfriereffekts" bei SE
Mit der Abschaffung des "Einfriereffektes" bei der SE will die neue Bundesregierung schließlich einer Forderung nachkommen, die von Vertretern der Arbeitnehmer:innen bereits seit vielen Jahren erhoben wird. Diesen ist es ein Dorn im Auge, wenn Unternehmen sich kurz vor Erreichen der Schwelle von 2.000 Arbeitnehmer:innen durch Formwechsel in die SE der paritätischen Mitbestimmung entziehen oder, wenn vor der Umwandlung gar keine Unternehmensmitbestimmung galt, sogar dauerhaft mitbestimmungsfrei bleiben.
Um dies zu ändern, muss die neue Regierung jedoch die anderen EU-Mitgliedsstaaten überzeugen, denn die bisherigen Regelungen für die SE beruhen auf einer europäischen Richtlinie aus dem Jahre 2001.
Wann und mit welchen Details die geplanten Änderungen umgesetzt werden, ist zum derzeitigen Zeitpunkt unklar. Klar ist jedoch, dass sie für viele Unternehmen, die derzeit noch nicht der Mitbestimmung unterliegen, erhebliche Veränderungen für die Unternehmensführung mit sich bringen würden. Nicht nur die Wahl von Vertretern der Arbeitnehmer:innen in den Aufsichtsrat ist für Unternehmen zeit- und kostenintensiv. Auch die regelmäßige Abstimmung im Aufsichtsgremium nimmt Ressourcen in Anspruch.
Bei der SE dürfte allerdings eine Abschaffung des Einfriereffektes wegen der europarechtlichen Aspekte nicht kurzfristig zu erwarten sein. Ähnlich schwierig ist wegen der Auslandsbezüge die Erstreckung der Mitbestimmung auf ausländische Rechtsformen. Anders ist es bei der Änderung der Zurechnung der Arbeitnehmer:innen nach dem DrittelbG. Diese kann der Gesetzgeber mit der Stimmenmehrheit der Ampel-Koalition schnell umsetzen. Zugleich ist diese Änderung besonders tiefgreifend, weil sie zahllose Unternehmen erstmals der Unternehmensmitbestimmung unterwirft.
Der Autor Dr. Günter Seulen ist Partner und Rechtsanwalt bei Oppenhoff und berät Unternehmen vor allem im Gesellschaftsrecht.
Die Autorin Kathrin Vossen ist Partnerin und Rechtsanwältin bei Oppenhoff und berät Unternehmen im Arbeitsrecht.
Koalitionsvertrag: . In: Legal Tribune Online, 17.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46971 (abgerufen am: 13.10.2024 )
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