Die neue Bundesregierung will in Asylverfahren den Amtsermittlungsgrundsatz durch den Beibringungsgrundsatz ersetzen. Viele Richter blieben gelassen, es biete sich ein breites Spektrum an Ausgestaltungen. Andere sind alarmierter.
Es ist nur ein kurzer Satz im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung: Aus dem "Amtsermittlungsgrundsatz" muss im Asylrecht der "Beibringungsgrundsatz" werden. Damit bleibt ein Vorhaben, das bereits im Sondierungspapier angekündigt war, erst einmal bestehen. Vorstellen kann sich das in der Praxis niemand – weder Anwält:innen, noch Richter:innen. Ihre Reaktionen gehen von Aussagen von "rechtswidrig" bis zu "mal abwarten".
Es geht bei dem Vorhaben formal um eine grundlegende Änderung des Verfahrensrechts. Bisher gilt im Asylrecht der Amtsermittlungsgrundsatz. Danach müssen von Amts wegen hier durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im verwaltungsrechtlichen Verfahren oder die Vewaltungsrichter:innen im gerichtlichen Verfahren alle Informationen berücksichtigen, die für das Verfahren relevant sind und müssen entsprechende Ermittlungen anstellen. "Die Amtsermittlung ist ein Schlüsselinstrument zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit des Verwaltungshandelns", beschreibt Professor Wilfried Kluth auf dem Verfassungsblog. Beim Beibringungsgrundsatz hingegen, der bisher nur im Zivilrecht gilt, entscheiden die Parteien durch ihren Vortrag über den Gegenstand des Verfahrens.
Folge für die Gerichte könnten enorm sein. Dort, wenn man seinen Job ernst nimmt, sammeln die Richter:innen ein immenses Wissen über die Lagen in den jeweiligen Ländern an. Die ziehen Lageberichte des Auswärtigen Amtes, der NGOs wie Amnesty International oder dem UNHCR bei, um zu ermitteln, ob ein Mensch in seinem Herkunftsland gefährdet ist. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW in Münster hat für die Sammlung dieser Informationen eigens eine Informations- und Dokumentationsstelle eingerichtet. An den Verwaltungsgerichten werden Kammern nach Ländern gebildet, damit das Wissen der Richter:innen über die Länder möglichst effizient eingesetzt werden kann, inzwischen haben in vielen Bundesländern zudem einzelne Gerichte die Zuständigkeit für bestimmte Länder. All dies würde womöglich obsolet – zumindest bei den Gerichten.
Schon jetzt bestehen Mitwirkungspflichten
Denn nach dem Vorhaben der CDU und SPD-Regierung sollen die Asylbewerber:innen die Informationen künftig selbst beibringen. Das ist nur teilweise neu: Ihre individuelle Situation, die den Grund für ein Schutzrecht mit sich bringt, müssen die Menschen heute schon selbst in das Verfahren einbringen. "Der Asylkläger hat schon jetzt umfassende Mitwirkungspflichten", sagt ein Richter aus NRW, der namentlich nicht genannt werden möchte. "Insbesondere das individuelle Verfolgungsschicksal liegt in seiner Sphäre und ist darzulegen". Das ist den Fällen immanent: Zwar können die allgemeinen Länderberichte etwa zu Folter etwas darlegen, nicht aber die individuellen Vorkommnisse bei dem Schutzsuchenden.
Zu diesem Vortrag wird der Kläger bisher gerichtlich je nach Fall sehr umfassend befragt. Wie weitgehend es dabei umfassend bleiben kann, ist aber unklar. "Wenn es ähnlich wie im Zivilrecht wäre, bestünden dabei Grenzen", meint der NRW-Richter. Gegebenenfalls würden Rechte einer Partei verletzt, wenn man zu weitgehend fragt. Dazu – und das ist oft zu hören an diesem Donnerstag – müsste man jedoch die genaue Ausformulierung des Vorhabens abwarten, "es bietet sich ein breites Spektrum der Möglichkeiten". Im Grundsatz aber dürfte künftig gelten: Was nicht vorgetragen ist, muss unberücksichtigt bleiben.
Das dürfte auch für bereits vorhandenes Wissen der Richter:innen gelten. "In völliger Reinform betrachtet sitzt das Gericht vor einem leeren Blatt". Auch das vorher schon vorhandene Wissen des Gerichts wäre nicht Gegenstand des Verfahrens, sondern müsste eingeführt werden. "Ein versierter Rechtsanwalt führt die Berichte selbst in das Verfahren ein", meint der Richter, es obliegt dann denen, die Informationen zu beschaffen. Viele der Berichte sind jedoch öffentlich zugänglich.
Für Matthias Lehnert, Anwalt im Migrationsrecht und Mitglied beim Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) stellen sich dabei ganz praktische Fragen: "Wenn zwei Tage nach einer Verhandlung eine erneute Afghanistan-Sache bei derselben Kammer terminiert ist – sind die Informationen dann erneut einzubringen?" Denn: Wenn alle Anlagen jedes Mal übermittelt werden müssen und die Richter:innen alle Dokumente jedes einzelne Mal durchgehen, würde das zu einer erheblichen Mehrbelastung bei den Gerichten führen.
„Wer als Schutzsuchende:r nicht anwaltlich vertreten ist, dem wäre das unmöglich", sagt Lehnert, und für die Anwält:innen wäre es ein "riesiger bürokratischer Aufwand". Für den RAV habe "der Staat die Pflicht, Menschen zu schützen. Damit muss einher gehen, dass der Staat selbst die Asylgründe prüft und sich die Quellen zugänglich macht, das kann nicht dem Einzelnen überantwortet werden", so der Anwalt. Für ihn würde mit der Änderung das bestehende Asylrecht auf den Kopf gestellt.
Beweiserhebung im Herkunftsland?
Die Vorträge der Parteien müssen zudem gewürdigt werden. Bisher stellen die Richter:innen etwa selbst bei Bedarf Anfragen ans Auswärtige Amt, recherchieren zu Behandlungsmöglichkeiten oder Medikamentenversorgung im Herkunftsland. "Das würde zwar wegfallen, bis ein entsprechender Vortrag ins Verfahren eingeführt wird", so der Richter. "Der Richter muss den Vortrag aber verifizieren, zu einer Zeitersparnis würde man dabei nicht kommen".
Eine weitere Richterin ist überzeugt, dass dies "an der täglichen Arbeit alles ändern wird". Und auch sie hat Fragen: "Wenn der Kläger etwas substantiiert vorträgt, die Beklagte (Anm., das BAMF) bestreitet das – dann müsste man Beweis erheben. Aber wer würde die tatsächlichen Informationen beschaffen? Machen wir dann Beweiserhebung vor Ort?". Auch sie kommt allerdings mit dem Zweizeiler im Koalitionsvertrag nicht weiter und wird schauen, was die Koalition genau formuliert. Auch der NRW-Richter sagt: "Wir reagieren erst auf Gesetzesänderungen".
Dann könnte es zumindest vorübergehend an vielen Verwaltungsgerichten zum Erliegen der Rechtsprechung kommen, weil der Europäische Gerichtshof angerufen wird. Denn: "Der EuGH sagt klar, dass man sicherstellen muss, dass die Person keinen Schutz braucht, das folgt aus Art. 4 Qualifikationsrichtlinie und aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes", so führte es der Migrationsexperte Prof. Constantin Hruschka bereits gegenüber LTO aus. Zwar habe das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019, Az. 1 C 31.18) mal entschieden, dass kein Flüchtlingsschutz erteilt werden muss, wenn man nicht sicher ist, dass die Person Schutz braucht – das sieht der EuGH allerdings anders. Ein Gericht, das gar nicht selbst ermitteln darf, kann aber die fehlende Schutzbedürftigkeit auch nicht sicherstellen.
Mit Blick auf die Richtlinie könnte die Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatzes also unionsrechtswidrig sein – und damit wird vermutlich sehr schnell ein:e Verwaltungsrichter:in das Verfahren, das nach dem Beibringungsgrundsatz geführt werden soll, dem Europäischen Gerichtshof vorlegen, lässt ein weiterer Richter anklingen. Sagen will das an diesem Tag aber niemand laut.
* Fassung vom 11.4.25, mit ergänzenden Klarstellungen.
Wechsel der Verfahrensgrundsätze im Asylrecht im Koalitionsvertrag: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56984 (abgerufen am: 25.04.2025 )
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