In der Nacht auf Freitag steht auf Borkum wieder "Klaasohm" an, diesmal ohne Schläge gegen Frauen. Das gehörte jahrzehntelang zum Brauch dazu, auch Frauen stimmten zu – eine wirksame Einwilligung? Das beantwortet Matthias Jahn im Interview.
LTO: Sieben kostümierte Männer, die Frauen suchen und ihnen dann mit Kuhhörnern auf Hintern und Beine schlagen. Das ist bisher Teil des Volksfestes Klaasohm gewesen, das immer in der Nacht auf den 6. Dezember auf Borkum gefeiert wird. Das hat der NDR recherchiert. Nach einem großen Eklat gab der Veranstalter nun bekannt, auf die Schläge verzichten zu wollen. Das wäre ja zu hoffen.
Prof. Dr. Matthias Jahn: Ja, allerdings. Dieser Brauch lässt ein Weltbild sichtbar werden, das aus der Zeit gefallen ist.
Aber nicht nur das. Menschen mit dem Kuhhorn auf den Hintern zu schlagen, ist doch auch eine strafbare Körperverletzung nach § 223 Strafgesetzbuch (StGB). Oder nicht?
Tatbestandlich ist das sehr eindeutig eine Körperverletzung. Ob sie auch strafbar ist, hängt im Einzelfall davon ab, ob eine wirksame Einwilligung vorliegt. Es soll ja dem Vernehmen nach auch Borkumerinnen geben, die den Brauch so aufrechterhalten wollen. Allein, dass es so lange weiterlief, ohne dass die Öffentlichkeit davon mitbekommen hat, spricht dafür.
Lässt sich deshalb einfach darauf schließen, dass alle Borkumerinnen mit Schlägen einverstanden sind?
Nein, eine Einwilligung muss immer im Einzelfall geprüft werden. Hier kommt es dann wirklich auf die konkreten Umstände an und auf die verbale und nonverbale Kommunikation der Person.
Nein heißt Nein.
Das sowieso. Aber auch wegrennen, schreien oder andere klar ablehnende Verhaltensweisen deuten darauf hin, dass die Person nicht einverstanden ist. Es sei denn, es ist eindeutig Teil dieses eigenartigen Spiels.
Einwilligung könnte sittenwidrig sein
Tatsächlich sagt die Stimme in dem Beitrag des ARD-Magazins "Panorama" über diese "Jagd": "Wir sehen in dieser Nacht auch viele Frauen auf den Straßen. Manche verstecken sich, es wirkt wie ein Spiel." In einer Videoaufnahme mit versteckter Kamera sieht man, dass mehrere Männer eine Frau festhalten und der kostümierte Klaasohm – unter dem Jubel der Umstehenden – auf ihren Hintern und ihre Oberschenkel eindrischt. Die Sprecherstimme sagt, die Frau habe zuvor "auf die Ankunft der Klaasohms gewartet", sei diesen "hingehalten" worden. Ist das eine Einwilligung?
Das lässt sich nicht abstrakt beurteilen. Da ist vonseiten der Reporter auch viel Wertung drin. Wenn das so zutrifft, dass die Frau gewartet und sich somit hat festhalten lassen, dann war sie wohl einverstanden und dann kann man das als Einwilligungserklärung deuten. Ob diese wirksam ist, steht aber noch mal auf einem anderen Blatt. Das ist dann der Dreh- und Angelpunkt der Strafbarkeit.
Warum könnte sie unwirksam sein?
Nach § 228 StGB darf die Einwilligung nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Das war auch früher schon Thema bei Studentenverbindungen und ihren sogenannten Mensuren. Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof (BGH) dann vor vielen Jahrzehnten entschieden, dass studentische Schlägermensuren nicht gegen die guten Sitten verstoßen.
Dabei ist der Begriff der guten Sitten heute selbst problematisch, das erinnert etwas an das Unwort des "gesunden Volksempfindens". Heute macht der BGH das anders.
Und zwar?
Bei § 228 StGB geht es heute nicht mehr um die guten Sitten im Sinne eines "Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden", sondern er fragt weltanschaulich neutraler und deutlich rationaler danach: Geht von der Körperverletzung eine Gefährdung aus, die über ein erträgliches Maß hinausgeht?
"Gibt es ein Regelwerk?"
Wie bestimmt man, ob das der Fall ist?
Mit einem grundrechtsbasierten Maßstab, bei dem die Gefahr der Verletzungshandlungen für die körperliche Unversehrtheit und das Leben berücksichtigt wird. Es geht also vor allem um die Gefahr einer Eskalation der Gewalt. Das ermöglicht es dem BGH, viel stärker den Einzelfall zu berücksichtigen.
Und wenn die Gewaltanwendung auch "spielerische" Elemente hat – so wie beim Klaasohm, wenn man die Einwilligung mal voraussetzt?
Da spielt dann nach der Rechtsprechung auch eine Rolle: Gibt es ein Regelwerk? Wenn es kein Regelwerk gibt, gibt es dann eine Üblichkeit, an die sich die Beteiligten halten?
Der BGH hat das mal für sogenannte Drittort-Auseinandersetzungen im Fußball entschieden, also Schlägereien von Hooligans auf neutralem Grund. Dazu sagte der BGH: "Die Hooligans halten sich nicht an die Regeln, es gibt auch kein Regelwerk, dem wohnt die Gefahr der Eskalation inne. Deshalb ist das sittenwidrig."
Die konkrete Frage für Polizei und Staatsanwaltschaft wäre also hier: Hat das, was beim Klaasohm passiert, solch ein Eskalationspotenzial, dass eine Gefährdung der Frauen besteht, die über das verfassungsrechtlich tolerierbare Maß hinausgeht?
Psychologische Faktoren
Das Bild einer Massenschlägerei vermittelt der Klaasohm nun nicht. Kommt es nur auf die potenzielle Schwere der Verletzungen oder die Unkontrollierbarkeit der Gewalt an? Oder kann man auch die psychologische Dimension berücksichtigen? Eine Frau in dem Beitrag sagt, das Gefühl sei "beklemmend, beschämend, bedrückend" gewesen. Eine andere sagt, sie sei "verängstigt", es sei unangenehm zu wissen, dass es gleich "hammermäßig wehtun" werde. Findet dies Berücksichtigung?
Die Rechtsprechung ist dabei nicht ganz eindeutig. Eigentlich darf man das Eskalationspotenzial unmittelbar nur auf die körperliche Integrität beziehen, also das Schutzgut der Körperverletzungsdelikte. Ganz konsequent ist der BGH aber nicht. Er fragt auch danach: Ist das ein gruppendynamischer Prozess, der unabhängig vom Willen der Beteiligten typischerweise nicht mehr beherrschbar ist?
Im Einzelfall können da Grenzen überschritten sein. Wenn es zu großflächigen Hämatomen oder blauen Flecken kommt, könnte das ein Hinweis auf eine Eskalation sein. Rein psychologische Faktoren dürften aber nicht ausreichen, um eine Sittenwidrigkeit der Einwilligung zu begründen.
Wenn die Frau es als unerträglich empfindet, kann sie die Einwilligung auch jederzeit widerrufen. Alles, was danach passiert, ist dann eindeutig eine rechtswidrige Körperverletzung.
Was ist, wenn die Klaasohms und ihre Helfer übersehen, dass keine Einwilligung vorliegt oder diese widerrufen wurde?
Dann kann ein Erlaubnistatbestandsirrtum vorliegen. Dann ist es eine rechtswidrige Tat, aber der Täter handelt ohne Schuld.
Kuhhorn als gefährliches Werkzeug?
Kommt neben der einfachen Körperverletzung auch eine gefährliche Körperverletzung in Betracht?
Ja, allein schon deshalb, weil hier ja offenbar meist gemeinschaftlich gehandelt wird. Wenn mehrere festhalten und einer schlägt, dann ist das gemeinschaftlich im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB.
Ist das Kuhhorn ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB?
Das kommt auf die Verletzungen an. Die Frage ist: Ist es geeignet, nach Art der Anwendung im Einzelfall erhebliche Verletzungen zu verursachen? Da reichen blaue Flecke nicht aus.
Aber dann bliebe ja meist auch § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, also die gemeinschaftliche Körperverletzung. Damit braucht es auch keinen Strafantrag, um zu ermitteln.
Richtig. Aber auch bei der einfachen Körperverletzung handelt es sich nur um ein relatives Antragsdelikt. Nach § 230 StGB könnte die Staatsanwaltschaft hier die Tat verfolgen, wenn sie das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Matthias Jahn ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Richter am dortigen Oberlandesgericht.
Strafbarkeit der "Klaasohm"-Prügel: . In: Legal Tribune Online, 05.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56047 (abgerufen am: 24.01.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag