Das BVerfG wird sich erneut mit der kirchlichen Selbstbestimmung befassen. Das ändert nichts mehr daran, dass der EuGH eine Entscheidung aus Karlsruhe ausgeschaltet hat. Sehr zum Ärger des früheren Verfassungsrichters Ferdinand Kirchhof.
Wie viel Kirche darf im Staate sein? Und was hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu entscheiden, wenn es bereits ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gibt? Oder ist genau diese Frage anders herum zu formulieren?
Zwei Fälle, der des katholischen Chefarztes und der Fall Vera Egenberger, mischen das Verhältnis der nationalen zu den europäischen Gerichten und nebenbei das kirchliche Arbeitsrecht seit Jahren kräftig auf. Auch der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, nannte den Chefarzt-Fall als Beispiel, als er in der aktuellen Neuen Juristischen Wochenschrift deutliche Kritik an Entscheidungen aus Luxemburg übte.
Diesen hatten die deutschen Verfassungsrichter aus Karlsruhe anders bewertet als danach der EuGH und das Bundesarbeitsgericht (BAG). Die Entscheidung betraf einen jahrelangen Streit zwischen der Caritas und einem Chefarzt, dem die Kirche nach seiner Wiederheirat gekündigt hatte. Der Fall ging über das Arbeitsgericht (ArbG) Düsseldorf (Urt. v. 30.07.2009, Az. 6 Ca 2377/09) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf (Urt. v. 01.07.2010, Az. 5 Sa 996/09) bis zum BAG (Urt. v. 08.09.2011, Az. 2 AZR 543/10). Alle Gerichte hielten die Kündigung für unwirksam.
Dann war das BVerfG an der Reihe und hielt die Fahnen hoch für die Kirchen (Beschl. v. 22.10.2014, Az. 2 BvR 661/12), ohne die Sache dem EuGH vorzulegen. Die Karlsruher Richter entschieden, das BAG habe die Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht ausreichend berücksichtigt und müsse daher neu entscheiden. Doch die Erfurter Richter entschieden erst einmal nicht, sondern legten den Fall dem EuGH vor. Der urteilte dann weitestgehend im Sinne des Chefarztes - und des BAG (Urt. v. 11.09.2018, Az. C-68/17).
Dürfen Kirchen ihre Mitarbeiter anders behandeln?
Vereinfacht gesagt hat der EuGH die Entscheidung des BVerfG aufgehoben und gleichzeitig neue, europäische Regeln für das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland aufgestellt. Diese hebeln das bisher in Deutschland existierende, noch auf die Weimarer Reichsverfassung zurückgehende kirchliche Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in weiten Teilen aus.
Das liegt an einem Halbsatz in Art. 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), den der EuGH für unvereinbar mit den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 4 Abs. 2 der Gleichbehandlungs-Richtlinie (2000/78/EG) hält. Die deutsche AGG-Regelung erlaubt den Religionsgemeinschaften im Rahmen ihres Selbstverständnisses bzw. Selbstbestimmungsrechts eine grundsätzlich verbotene Ungleichbehandlung. Sie durften in Deutschland etwa Bewerber ablehnen, wenn diese nicht der eigenen Religion angehören. Der EuGH findet jedoch, auch die Religionsgemeinschaften müssten sich der Kontrolle durch die nationalen Gerichte unterwerfen. Dabei sei zu prüfen, ob die Religion im Hinblick auf die Tätigkeit eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle. Sei dies nicht der Fall, könnten auch Religionsgemeinschaften diskriminieren.
Wie der EuGH entschied daraufhin auch der zweite Senat des BAG – folglich ebenfalls entgegen der bereits existierenden Entscheidung des BVerfG: Die Chefarzt-Kündigung ist unwirksam (Urt. v. 20.02.2019, Az. 2 AZR 746/14). Übrigens hat der 8. Senat des BAG einen weiteren Fall entschieden, in dem die Erfurter Richter die Entscheidung des EuGH und die aus ihrer Sicht folgenden Konsequenzen für Art 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG – das ist die Unanwendbarkeit - erklären (Urt. v. 25.10.2018, 8 AZR 562/16).
Ferdinand Kirchhof kritisiert den EuGH
Nun hat also der EuGH eine Norm des deutschen Rechts ausgeschaltet. Diese Aufgabe obliegt eigentlich dem deutschen Bundesverfassungsgericht. Dass so eine Wirkung durch eine Entscheidung des EuGH überhaupt etwas möglich ist, moniert nun der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, in der aktuellen Ausgabe der NJW. Wie schon bei seiner Verabschiedung im März übte er deutliche Kritik am EuGH. Die Richter in Luxemburg fällten "einseitige Entscheidungen ohne Rücksicht auf gewachsene nationale Rechtsinstitute". Damit griffen sie in Bereiche ein, die die Mitgliedstaaten bewusst für sich selbst von europäischen Regeln freigehalten hätten.
Kirchhof macht in seinem Beitrag mehrere Reformvorschläge. Er stellt sich einen "Verbund der nationalen Verfassungsgerichte" vor, um "im Konsens auf der horizontalen Ebene Europas" gemeinsame Werte zu bestimmen – "statt autoritativ in der Vertikalen". Zudem sei es ausreichend, wenn nicht mehr jeder Richter, sondern nur jeweils die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten den EuGH anrufen könnten. Das aktuelle System "begünstige die Umgehung der nachfolgenden Instanzen und tendiere zur Zersplitterung der Rechtsprechung", heißt es in dem Beitrag. Stattdessen sollten in solchen Fällen "die nationalen Verfassungsgerichte einbezogen werden". So könne auch verhindert werden, dass untere Gerichte von sich aus nationale Gesetze wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen Europarecht nicht anwenden.
Wer sind "die Obersten Gerichte"?
Mit grundsätzlicher Kritik am EuGH steht Kirchhof nicht allein – die bezieht sich aber vor allem auf die unzureichenden Begründungen der Entscheidungen, nicht auf die Struktur an sich: "Das europäische Recht und seine Durchsetzung leben davon, dass jedes Gericht den EuGH anrufen kann", sagt Professor Dr. Matthias Jacobs, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht an der Bucerius Law School. Es sei realitätsfern, dass das BVerfG über jede Vorlage aus Teilrechtsbereichen entscheidet. "Soll das BVerfG jeder Vorlage zum Urlaubsrecht seinen Segen geben?", fragt Jacobs. Der Effekt wäre vor allem eine Verlängerung der Verfahren.
Im Übrigen sei eine Reform, wie Kirchhof sie sich vorstellt, nur mit einer Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) möglich: Art. 267 AEUV bestimmt die Kompetenzen des EuGH sowie das Vorlagerecht und die Vorlagepflicht der nationalen Gerichte.
Unklar war zunächst*, wen Kirchhof überhaupt mit "die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten" im Visier hat: "Er kann nicht ernsthaft meinen, dass nur noch das BVerfG vorlegen darf", sagt Professor Dr. Hermann Reichold, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Universität Tübingen, wo auch Kirchhof einst lehrte.
*Seine Einschätzung ist zutreffend: "Die Vorlagen sollten in erster Linie durch die obersten Bundesgerichte, nicht durch das BVerfG erfolgen“, erklärte Kirchhof gegenüber LTO. "Sie sind die fachlich berufenen Gerichte; auch geht es dort meist um Fragen spezieller Richtlinien, die keine deutschen Gesetze oder das Grundgesetz tangieren. Vom BVerfG kämen sonst nur noch Verfassungsfälle mit europarechtlichen Fragen nach Luxemburg. Die Vorlage durch die obersten Bundesgerichte sichert ferner bei der Verfassungsbeschwerde die Erschöpfung des Rechtswegs; so kann sich das BVerfG mit Fragen befassen, deren europarechtliche Implikationen schon geklärt sind", stellte der frühere Vizepräsident des BVerfG klar.
"Apodiktische Urteile aus Luxemburg"
Für den offensichtlichen Ärger des Verfassungsrichters a,D. hat Reichold aber Verständnis. Nach seiner Einschätzung hätte sich der EuGH mit der Historie der Richtlinie 2000/78/EG, auf deren Grundlage das AGG entstanden ist, befassen müssen. Darin habe die EU das nationale Recht über den Status der Kirchen inklusive der diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit besonders berücksichtigt. "Die historische Auslegung ist für den EuGH allerdings nicht relevant", so Reichold.
Auch Art. 17 AEUV, der den Status der Kirchen regelt, sei nicht hinreichend in Bezug auf die deutschen Besonderheiten der Religionsverfassung berücksichtigt worden. Außerdem sei es politisch ungeschickt von den EuGH-Richtern, wenn sie zu absolutistisch entscheiden, dafür gebe es in zu vielen Staaten eine zu große Europafeindlichkeit. "Diese Europaverdrossenheit könnte mit apodiktischen Urteilen aus Luxemburg noch steigen", fürchtet der Tübinger Professor. Doch sei der verbliebene Entscheidungsspielraum vom BAG auch nicht ansatzweise genutzt worden.
Im Ergebnis allerdings hält Reichold das Urteil des EuGH für passend: "Es war ein richtiger Hinweis, der das kirchliche Arbeitsrecht zutreffend in Richtung weltliches Arbeitsrecht verschoben hat."
Verfassungsbeschwerde im Fall Egenberger
Ob das BVerfG auch noch zu diesem Schluss kommt, kann es im Fall Egenberger noch zeigen: Die Diakonie hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. In dem Fall hatte sich die Frau im Jahr 2012 auf eine Referentenstelle beworben und war von der Diakonie abgelehnt worden, weil sie konfessionslos ist. Das ArbG Berlin sprach ihr eine Entschädigung in Höhe von einem Monatsgehalt zu (Urt. v. 18.12.2013, Az 54 Ca 6322/13): Es handele sich um eine ungerechtfertigte Diskriminierung, weil die Position nicht verkündungsnah war. Das LAG sah die Sache anders und entschied im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen (Urt. v. 28.05.2014, Az .4 Sa 157/14 u. 4 Sa 238/14). Weiter ging es zum BAG. Das setzte das Verfahren aus (Beschl. v. 17.03.2016, Az. 8 AZR 501/14 (A)) und legte ohne Umweg über Karlsruhe den Fall dem EuGH vor.
Daraufhin urteilte der EuGH erstmals im April 2018, die Kirchen dürften sich nicht mehr pauschal auf ihr Selbstbestimmungsrecht berufen, sondern müssen sich eine Überprüfung ihrer Entscheidung durch die nationalen Gerichte mindestens in Hinblick auf die drei Kriterien "wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" gefallen lassen (EuGH, Urt. v. 17.04.2018, Az. C-414/16). Das BAG sprach ihr daraufhin eine Entschädigung zu (Urt. v. 25.10.2018, Az. 8 AZR 501/14).
Der Diakonie blieb an dieser Stelle nur die Verfassungsbeschwerde, wenn sie die deutliche Einschränkung der kirchlichen Selbstbestimmung nicht hinnehmen möchte. Damit könnte das BVerfG selbst aktiv werden und eigene Fragen zur Interpretation der Luxemburger Entscheidungen dem EuGH vorlegen. Die Option der Verfassungsbeschwerde hat auch noch die Caritas im Chefarztfall – obwohl der Fall schon einmal beim BVerfG war. Aus Sicht von Experten aus dem Arbeitsrecht wäre das die Gelegenheit für das BVerfG, die Wogen zu glätten. Glücklich über den offensichtlichen Konflikt ist niemand. Da das BVerfG nicht selbst in der Sache entscheiden kann, sondern zurückverweisen muss, wird es zudem nach der Entscheidung im Egenberger-Verfahren das BAG in die Situation bringen zu fragen: Welchem Herrn sollen wir folgen?
*Absatz eingefügt am 11.04.2019, 14.32 Uhr (nachdem der Beitrag veröffentlicht war)
Ex-Verfassungsrichter will Reformen bei EuGH-Vorlagen: . In: Legal Tribune Online, 11.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34857 (abgerufen am: 05.12.2024 )
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