Pläne zur Kindergeldreform: Was ist Gleich­be­hand­lung?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M.

10.08.2018

Die Bundesregierung will die Höhe des Kindergelds künftig an den Wohnsitz koppeln, um zu verhindern, dass Menschen deshalb einwandern. Das ist rechtlich jedenfalls denkbar, aber womöglich wenig sinnvoll, meint Daniel Thym.

Manchmal wiederholt sich die Geschichte. Als die sozialliberale Koalition im Herbst 1973 den sogenannten Anwerbestopp erklärte, blieben viele Gastarbeiter – anders als ursprünglich geplant – im Land, der Spiegel titelte aufgeregt: "Gettos in Deutschland". Und so ersann die Bundesregierung indirekte Anreize, um die Zuwanderung weniger attraktiv zu machen. Anfang 1975 trat eine neue Kindergeldregelung in Kraft, wonach man für das erste Kind genau 50 DM erhielt, aber nur 10 DM, wenn das Kind im Ausland lebte. Doch die Maßnahme ging nach hinten los, denn für viele der Gastarbeiter war das geringere Kindergeld nur ein Grund, die Familie nachzuholen.

Die Wirkung könnte dieselbe sein, wenn man heute das Kindergeld an die Lebenshaltungskosten des Wohnsitzes koppelte, wie es die Bundesregierung derzeit auf europäischer Ebene plant. Wenn für Kinder in Bulgarien weniger gezahlt würde, könnte man diese nach Deutschland holen. Rechtlich wäre das problemlos möglich, denn für EU-Arbeitnehmer besteht ein privilegierter Familiennachzug. Nicht nur Medikamente haben manchmal unbeabsichtigte Nebenwirkungen, auch Politik hat sie.

Nationaler Alleingang gegen europäische Lösung

Es liegt auch am Recht, warum eine Neuregelung auf unsicheren Beinen stünde. Allerdings ist es nicht so eindeutig, wie die EU-Kommission meinte, als sie die Bestrebung heute ablehnte. Nur auf den ersten Blick trifft die Verordnung (EG) Nr. 883/2004, für die Peter Altmaier als Kommissionsbeamter in den frühen 1990er Jahren einmal zuständig war, eine klare Aussage, wenn sie in Art. 67 schreibt, dass der Mitgliedstaat, in dem ein EU-Arbeitnehmer tätig ist, für dessen Kinder, die im Ausland leben, solche Leistungen zahlen muss, "als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden." Nur wenn man das so liest, dass es eine gleiche Leistungshöhe vorgibt, müsste auf EU-Ebene für eine Mehrheit kämpfen, wer dies ändern wollte.

Ganz in diesem Sinn beschloss das Bundeskabinett im April 2017 nur ein Eckpunktepapier, das die Leitplanken für eine künftige Indexierung politisch niederlegte und zugleich die Kommission aufforderte, hierfür auf EU-Ebene eine Grundlage zu schaffen. Das Kabinett meint also, dass zuerst die Verordnung geändert werden müsse, wenn man die Kindergeldhöhe von den Lebenshaltungskosten im Aufenthaltsstaat abhängig machen will. Dasselbe sagt regelmäßig die EU-Kommission und auch die meisten Spezialisten des Sozialrechts in Deutschland sind der Meinung, dass eine Reform nur vom Unionsgesetzgeber beschlossen werden könnte.

Zwingend ist dies freilich nicht und die Frage wird schon bald den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beschäftigen. Österreich hat nämlich schon beschlossen, ab dem kommenden Jahr das Kindergeld mit den Lebenshaltungskosten zu verknüpfen und somit im nationalen Alleingang genau diejenige Indexierung vorgenommen, die die Bundesregierung erst einführen möchte, nachdem die einschlägige EU-Verordnung geändert wurde.

Die bayerische Staatsregierung nahm sich zwischenzeitlich den Nachbarn zum Vorbild und lancierte im Mai eine Bundesratsinitiative, die den nationalen Alleingang auch in Deutschland realisieren möchte. So sollen künftig Kinder in Bulgarien in Anlehnung an eine steuerrechtliche Ländergruppeneinteilung nur noch die Hälfte des Kindergeldes erhalten, in Lettland drei Viertel und in Norwegen die volle Summe.

Im bayerischen Vorschlag erfolgt also eine grobmaschige Indexierung, die – anders als in Österreich – auch nicht dazu führte, dass für Kinder in einigen Ländern mehr gezahlt werden müsste als in Deutschland. Dies sind jedoch Feinheiten der Berechnung, auf die es zunächst nur ankommt, wenn ein nationaler Alleingang überhaupt möglich ist.

Fehlende Klarheit auf EU-Ebene

Bundesregierung, Kommission und Sozialrechtler haben gute Gründe auf ihrer Seite, wenn sie den zitierten Art. 67 so lesen, dass dieser eine gleiche Leistungshöhe vorgibt. Dennoch ist die Rechtslage nicht eindeutig, weil der EuGH die Verordnung zuletzt restriktiv handhabte.

In mehreren Urteilen betonte der EuGH, dass die Koordinierungsverordnung nur regelt, welches Land zuständig ist, nicht jedoch die Voraussetzungen für bestimmte Sozialleistungen harmonisiert. Juristisch formuliert geht es also um Kollisionsnormen, die im Sinne von Rechtsgrundverweisungen das Sozialrecht eines Landes für anwendbar erklären, nicht aber die Bedingungen vorschreiben, wann und wie eine Leistung zu gewähren ist.

Auf dieser Grundlage erklärte der EuGH wenige Wochen vor dem Brexit-Referendum eine britische Regelung für rechtmäßig, die das Kindergeld an den gewöhnlichen Aufenthalt geknüpft hatte – und wies damit eine Klage der Kommission als unbegründet zurück. Bereits zuvor hatte der Gerichtshof den Sozialleistungsanspruch von Unionsbürgern eingeschränkt, obwohl viele Expertinnen und Experten gemeint hatten, dies verstoße eindeutig gegen die Regeln der Koordinierungsverordnung.

Gewiss betreffen all diese Urteile unterschiedliche Sachverhalte und man kann sie nicht eins zu eins auf die Diskussion um das Kindergeld übertragen. Dennoch zeigen sie, dass der EuGH gerade bei den Sozialleistungen zuletzt großzügiger war. Hiernach kann man argumentieren, dass auch Art. 67 "nur" ein Gleichbehandlungsgebot aufgibt. Wenn dem so wäre, könnte ein nationaler Alleingang erfolgreich sein.

Gleiche Berechnungsmethode oder Erfolgsgleichheit

In seinen Urteilen zum Kindergeld stellte der EuGH klar, dass grenzüberschreitende Sachverhalte gleich behandelt werden müssen. Man darf EU-Arbeitnehmern also das Kindergeld nicht verweigern. Dies gilt für die nationalen Parlamente ebenso wie für den EU-Gesetzgeber. Bereits 1986 erklärte der Gerichtshof eine damalige Ausnahmeregelung für rechtswidrig, die Ar-beitnehmer, die in Frankreich arbeiteten, ganz vom Kindergeld ausschließen wollte, wenn die Kinder im Ausland wohnten.

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass eine Indexierung nach den Lebenshaltungskosten ebenfalls rechtswidrig wäre. Das Gleichheitsgebot erlaubt nämlich zwei Lesarten. Zum einen kann man es so deuten, dass dieselben Regeln gelten müssen. Österreich müsste also dieselbe Berechnungsmethode anwenden und österreichische Kinder, die in Bulgarien wohnen, ebenso behandeln wie bulgarische Staatsangehörige.

Wer anderer Auffassung ist, muss argumentieren, dass das Europarecht eine Erfolgsgleichheit vorgibt, i. E. also die gleiche Geldsumme für alle Kinder. Dies gilt für den zitierten Art. 67, den man gegebenenfalls ändern könnte, ebenso wie für das Diskriminierungsverbot der EU-Verträge, das auch der EU-Gesetzgeber beachten muss. Letzteres sieht die Kommission aber offenbar nicht als Hürde an, denn sie versprach im Vorfeld des Brexit-Referendums, die Koordinierungsverordnung zu ändern, wenn die Briten gegen den Austritt stimmen.

Dieses Versprechen ist nach dem Brexit-Referendum hinfällig. Es zeigt aber, dass selbst die Kommission davon ausgeht, dass eine Indexierung prinzipiell möglich wäre, weil sie nicht gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Wenn Brüssel sich also lediglich auf den Wortlaut des Art. 67 stützt, steht man damit auf dünnem Eis. Die österreichische Bundesregierung wagt nun ein juristisches Ringen, das die Bundesregierung bisher umgeht. Ganz ähnlich wie Deutschland bei der Maut lässt es Österreich beim Kindergeld auf einen Rechtsstreit ankommen.

Gleichheit zwischen "Missbrauch" und "Fairness"

Unabhängig vom Recht sollte der öffentliche Diskurs aber aufpassen, dass er die Kindergeldfrage nicht zu einseitig diskutiert. Das liegt an den eingangs erwähnten Unwägbarkeiten hinsichtlich der Folgen ebenso wie an den Vorteilen, die Deutschland aus der Zuwanderung zieht.

So ist der Missbrauch nur ein Grund, warum die Kindergeldzahlungen zunahmen. All die Debatten um Flüchtlinge verdecken bisweilen, dass die Bundesrepublik derzeit eine massive Zuwanderung aus europäischen Ländern erfährt. Allein im letzten Jahr zogen rund 400.000 EU-Bürger mehr nach Deutschland als fortzogen. Seit Anfang des Jahrzehnts erhöhte sich die Gesamtzahl von 2,6 auf derzeit rund 4,7 Millionen. Da ist es ganz normal, dass mehr Kindergeld gezahlt wird.

Die meisten Unionsbürger sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, zahlen Steuern und erfüllen, etwa in der Pflege, nützliche Aufgaben. Sie zeigen, dass die deutsche Gesellschaft eine Fachkräftezuwanderung braucht und hiervon profitiert, nachdem Bulgarien, Polen und Rumänien zuvor die Ausbildung von denjenigen bezahlten, die nun hier arbeiten.

All das ist kein Argument gegen eine Indexierung des Kindergeldes oder ein konsequentes Vorgehen gegen Missbrauch, aber man sollte auch die Vorteile betrachten. Eine klug gesteuerte Zuwanderung ist im deutschen Interesse und man sollte dies auch aussprechen.

Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).

Zitiervorschlag

Pläne zur Kindergeldreform: Was ist Gleichbehandlung? . In: Legal Tribune Online, 10.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30289/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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