Vorverurteilung durch die "objektivste Behörde der Welt": Wes­halb Berlin einem Bor­dell 100.000 Euro zahlen muss

von Katharina Uharek

26.01.2023

Die Berliner Staatsanwaltschaft führte 2016 eine Razzia im Bordell "Artemis" durch und berichtete darüber in "reißerischer" Weise auf einer Pressekonferenz. Das Bordell verklagte das Land nun erfolgreich auf Zahlung von 100.000 Euro.

Im April 2016 rückte die Staatsanwaltschaft mit Hunderten Polizisten, Zollfahndern und Staatsanwälten an, um in dem Berliner Bordell "Artemis" eine Razzia durchzuführen. Mehrere Verdächtige werden festgenommen. Über die Durchsuchung berichtete der damals Leitende Oberstaatsanwalt (LOStA) ausführlich bei einer Pressekonferenz.

Letztlich stellten sich die Vorwürfe gegen die Bordellbetreiber als unbegründet und der hinreichende Tatverdacht als nicht vorhanden heraus. Das Berliner Landgericht (LG) ließ die Anklage der Staatsanwaltschaft nicht zu. Es kam also weder zu einem Hauptverfahren, geschweige denn zu einer Verhandlung gegen die Betreiber des Etablissements.

Wegen der umfassenden Berichterstattung, die nach Ansicht der Bordellbetreiber vorverurteilend gewesen sei, klagten sie zunächst ohne Erfolg vor dem LG Berlin, dann allerdings erfolgreich vor dem Kammergericht (KG) in Berlin auf Schadensersatz von mindestens 200.000 Euro. Dazu verlangten sie eine Entschuldigung, weil sie zu Unrecht angeprangert worden seien. Der 9. Zivilsenat des KG sprach auch schließlich den beiden Betreibern im Berufungsprozess jeweils 50.000 Euro nebst Zinsen zu (Urt. v. 20.12.2022, Az. 9 U 21/21). Die Äußerungen der Staatsanwaltschaft bei der Pressekonferenz im April 2016 seien zum Teil unzutreffend und vorverurteilend gewesen, urteilte das Gericht. Es läge insoweit eine Amtspflichtverletzung vor.

Berlin hätte mit Vergleich 75.000 Euro gespart

Zu einem vom Zivilsenat angestrebten Vergleich in Form einer Entschuldigung und Entschädigung kam es nicht. Das Gericht schlug dem Land Berlin vor, 25.000 Euro am eine gemeinnützige Organisation zu zahlen, statt Schadensersatz an die Bordelbetreiber zu leisten. Die Betreiber boten an, auf eigene Leistungen zu verzichten, diese vielmehr an gemeinnützige Organisationen zum Schutz von Prostituierten oder der Unterstützung krebskranker Kinder zuleiten zu wollen. Ob das Land diesen Vergleich nicht besser angenommen hätte? Mit dem Urteil kam es schließlich noch dicker.

"Die Vertreter des Landes Berlin haben die rechtliche Situation in diesem Verfahren von Beginn an eklatant falsch eingeschätzt", meinte auch der Anwalt der Kläger, Ben M. Irle. Das Land Berlin habe die Chance verpasst, im Rahmen eines Vergleichs "die offensichtlichen und schweren Fehler der Staatsanwaltschaft einzugestehen".

Von der Justizverwaltung hieß es hingegen: "Wir halten das Urteil des Landgerichts Berlin in erster Instanz weiterhin für zutreffend." Im Rahmen der Verhandlung seien lediglich Vergleichsverhandlungen "um des Rechtsfriedens willen geführt worden". Berlin könne nicht jeden Geldbetrag anerkennen, da es an haushälterische Grundsätze gebunden sei.

Äußerungen der Staatsanwaltschaft als Amtspflichtverletzung

Die Mitteilungen der Staatsanwaltschaft seien teilweise "schuldhaft amtswidrig" und  überzogen, sogar reißerisch formuliert gewesen, begründete die Vorsitzende Richterin Cornelia Holldorf in den nun vorliegenden Urteilsgründen. Wegen der durch die Staatsanwaltschaft begangenen Amtspflichtverletzung (§ 839 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Verbindung mit Artikel 34 Satz 1 Grundgesetz (GG)) sei ein Schmerzensgeld i.H.v. 50.000 Euro pro Betreiber angemessen. Insbesondere die durch die Staatsanwaltschaft ins Spiel gebrachten "Verbindungen zur organisierten Kriminalität" hätten sich nicht bestätigt. Zu solchen Verbindungen wäre auch gar nicht ermittelt worden, so das KG.

Die Staatsanwaltschaft hingegen war der Auffassung, die Bordellbetreiber könnten als "vorbestrafte Bordellbesitzer mit Beziehungen in das Rockermilieu" gar keinen Reputationsverlust erleiden. Das sah das Gericht jedoch anders und sprach den Betreibern einen Anspruch auf Leistung von Geldentschädigung für immaterielle Schäden zu. Nach Ansicht des Gerichts sei das Persönlichkeitsrecht der Betreiber durch die Äußerungen der Staatsanwaltschaft in erheblicher Weise verletzt worden.

Vorsicht bei Äußerungen im Ermittlungsverfahren

Bei Presseäußerungen habe die Staatsanwaltschaft stets die erforderliche Abwägung zwischen Informationsrecht der Presse und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Betroffenen abzuwägen, heißt es in den Urteilsgründen. Entscheidend sei dabei nicht der reine Wortlaut der Äußerungen, sondern der Eindruck, den die Auskunft hervorruft. Besondere Vorsicht müsse für Ermittlungsverfahren gelten, da Informationen in einem Stadium erteilt würden, in denen noch kein Ergebnis vorliege.

Die Staatsanwaltschaft muss nach Ansicht des KG bei öffentlichen Äußerungen auch darauf achten, welchen Eindruck juristische Laien von den Betroffenen erhalten. Grundsätzliche Richtlinien für die Berliner Justiz sind in Nr. 23 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) festgelegt. In der Nr. 23 Abs. 1 S. 4 RiStBV steht beispielsweise, dass eine unnötige Bloßstellung der betroffenen Person zu vermeiden ist. Diesen Anforderungen wurde der Leitende Oberstaatsanwalt nicht gerecht. Seine Äußerungen waren nach der Bewertung des KG zum Teil nicht zutreffend, zum Teil unpräzise, im Gesamteindruck vorverurteilend und in unzulässiger Weise reißerisch formuliert.

Angesichts der Schwere der erhobenen Vorwürfe, hätte die Staatsanwaltschaft einen besonders hohen Sorgfaltsmaßstab anlegen und den Wahrheitsgehalt überprüfen müssen. Seine Äußerungen "[…] das System der Prostitution in gewalttätigen […] Umfeld bestätigen und unterstützen […]" und "[…] sind Prostituierte ausgebeutet worden, ist Gewalt ausgeübt worden […]", seien absolut unzulässig. Wenn eine mit einer so erheblichen Ehrenkränkung verbundene Behauptung auf einer derart dürftigen Tatsachen- und Ermittlungsgrundlage beruhe, gebiete eine an den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern ausgerichtete Abwägung der Interessen, die betroffene Person, hier die Kläger, nicht "an den Pranger zu stellen".

Unpräzise Wortwahl des LOStA

Den Ursprung für die amtspflichtwidrigen Äußerungen sah das Gericht in der unpräzisen Wortwahl des Leitenden Oberstaatsanwalts bei einer solchen Pressekonferenz. "Er hat sich bewusst für reißerische Begrifflichkeiten entschieden, für die klar umrissene Definitionen nicht vorhanden sind und welche in der Fantasie des interessierten Zuhörers Welten weiter Assoziationen öffnen mussten", so das KG.

Dabei darf die Berichterstattung in diesem Verfahrensstadium wegen der geltenden Unschuldsvermutung (Artikel 20 Abs. 3 GG, Artikel 28 Absatz 1 i.V.m. Artikel 6 EMRK) in keiner Weise vorverurteilend wirken. Diesen rechtsstaatlichen Grundsatz habe der LOStA verletzt, indem er es so darstellte als seien die Ermittlungen bereits abgeschlossen, dabei waren die gewonnenen Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ausgewertet.

Unzulässiger Vergleich mit "Al Capone"

Gänzlich unzulässig sei der suggestiv in den Raum gestellte Vergleich mit "Al Capone" gewesen, von dem jeder historisch bewanderte und cineastisch erfahrene Zuhörer eine geradezu bildliche Vorstellung von massivsten Straftaten unter Einsatz von Gewalt und systematischen Morden assoziieren musste, so das KG. Der Vergleich mit Al Capone stelle in diesem Sinne eine Effekthascherei dar, welcher sich eine Strafverfolgungsbehörde zu enthalten habe.

Das LG hatte eine Amtspflichtwidrigkeit durch den Vergleich mit "Al Capone" noch verneint, weil die Berichterstattung den Bezug allenfalls als "Aufmacher" benutzt habe. Diese Einschätzung sei unrichtig, urteilte das KG. Im Übrigen sei es dem Leiter einer Staatsanwaltschaft versagt, der Presse reißerische "Aufmacher" zu liefern.

Unschuldsvermutung gilt auch für Bordellbetreiber

Abschließend führte das KG zutreffend aus, dass es für die Presseberichterstattung nicht darauf ankomme, ob die Bordellbetreiber keinen "guten Ruf" hätten oder vorbestraft seien. Ihnen stünden, wie jedem anderen Menschen auch, die Rechte aus Art. 1 und Art. 2 GG zu. Es zeuge von einem unzureichenden und seinerseits verfassungswidrigen Rechtsverständnis, vorbestraften Menschen oder Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit dem Betrieb bordellartiger Betriebe verdienen, einen guten Ruf oder eine Ehre generell abzusprechen, so das KG.

Einer der Betreiber beschrieb, wie er und sein Bruder in ihrem persönlichen Umfeld bei Freunden und auch engen Familienmitgliedern als Gewaltverbrecher und Zuhälter angesehen worden seien. Freunde hätten sich abgewendet. Auf Grund der Vorverurteilung habe man ihnen keinen Glauben mehr geschenkt.

Das Urteil des KG kratzt erheblich an der Fassade der "objektivsten Behörde der Welt" und verdeutlicht, welche Vorsicht Pressesprecherinnen und Pressesprecher bei öffentlichen Äußerungen an den Tag legen sollten.

Im Dezember hieß es noch, dass geprüft werde, ob gegen das Urteil des Kammergerichts Rechtsmittel beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt werden sollen. Die Revision wurde durch das KG nicht zugelassen, sodass zunächst eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingereicht werden müsste.

Mit Material der dpa

Zitiervorschlag

Vorverurteilung durch die "objektivste Behörde der Welt": Weshalb Berlin einem Bordell 100.000 Euro zahlen muss . In: Legal Tribune Online, 26.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50893/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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